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Interview: “Es gibt heute schon Möglichkeiten, wenn man denn wollte.”

11. August 2022
News

Wir setzen uns als Seebrücke dafür ein, dass Städte mehr geflüchtete Menschen aufnehmen und Orte zum Ankommen werden. Wir schaffen in der Migrationspolitik einen Gegenentwurf zu Abschottung und Ausgrenzung von Menschen. Dafür wollen wir Städte gewinnen, sich proaktiv einzusetzen. In Deutschland ist die Seebrücke sehr erfolgreich und es gibt bereits über 300 Städte, die sagen, wir sind ein Sicherer Hafen[1] und bereit, im Migrationsbereich mehr zu tun. In der Schweiz ist dieses Label nicht so sehr bekannt. Aber es gibt doch auch hier einige Städte, die schon viel machen. Dazu gehört Zürich.

Ein Gespräch mit Stadtrat Raphael Golta über Netzwerke, Handlungsmöglichkeiten und die Haltung der Stadt Zürich gegenüber dem Bund.

Raphael Golta ist SP-Politiker und seit 2014 Mitglied des Zürcher Stadtrats. Er ist Vorsteher des Sozialdepartements der Stadt Zürich.

Anfang des Jahres hat sich die Stadt Zürich für die Initiative «Willkommensstädte»[2] stark gemacht und sich für einen Systemwechsel ausgesprochen: Der Bund soll aufhören, zu blockieren und mehr Möglichkeiten schaffen, dass Städte selbstständig mehr geflüchtete Menschen aufnehmen können. Wie setzt sich die Stadt Zürich aktuell über diese Willkommensstädte-Initiative hinaus für geflüchtete Menschen ein?

Die Stadt Zürich hat sich als grösste Schweizer Stadt schon immer dafür eingesetzt, zusammen mit anderen Städten zu einer fortschrittlichen Flüchtlingspolitik beizutragen. Was in den Städten den Anfang nahm, widerspiegelt sich heute etwa in der schweizweit geltenden Integrationsagenda auch auf Bundesebene. Dieses Engagement hat sich also gelohnt.

Zum Thema Aufnahme von Geflüchteten haben wir uns gemeinsam mit anderen Städten organisiert und so ist Allianz «Städte und Gemeinden für die Aufnahme von Flüchtlingen» entstanden.

Angefangen hat das vor zwei Jahren mit dem Osterappell von evakuierenJETZT[3] und nach dem Brand von Moria. Die 8 grössten Schweizer Städte haben damals erklärt, dass sie mehr Menschen aufnehmen können und wollen – weitere Gemeinden haben sich seither angeschlossen.

Wie viele Städte beteiligen sich gerade aktiv an der Städteallianz und was passiert in diesem Rahmen im Moment? Was könnten in Zukunft Handlungsmöglichkeiten für diese Allianz sein?

Im Moment sind folgende 16 Städte und Gemeinden Teil der Allianz: Baden, Basel, Bern, Delémont, Fribourg, Genf, Kriens, Lausanne, Luzern, Moutier, Prilly, Spiez, St. Gallen, Wil (SG), Winterthur und Zürich. Der Lead liegt bei den grössten acht Schweizer Städten, darunter Zürich, Bern und Basel.

Aktuell warten wir auf eine ländervergleichende Untersuchung vom Bund zu den komplementären Zugangswegen für Menschen auf der Flucht und den weiterführenden rechtlichen Möglichkeiten für die Schweiz, die demnächst veröffentlicht werden sollte. Die Allianz konnte ihre Anliegen im Rahmen einer Stellungnahme des Schweizerischen Städteverbands einbringen.  Wie wollen solche Opportunitäten nutzen oder auch neue schaffen.

Was wir versuchen, ist politisch immer wieder einen Fuss in die Tür zu bekommen und zu sagen: “Wir sind bereit, wir können.” Wie die Erfahrung zeigt, öffnet sich immer irgendwann eine Tür. Bis dahin müssen wir geduldig und hartnäckig sein.

Welche Position nimmt die Stadt Zürich gegenüber dem Bund ein?

Im Moment bemühen wir uns darum, aufzuzeigen, dass die Schweiz – durch das Engagement der Städte – humanitär mehr leisten könnte. Es fehlt aber noch die Bereitschaft des Bundes, sich auch darauf einzulassen. Der Bund sucht immer wieder neue Ausreden, weshalb dieses Engagement eben nicht möglich sein soll. Derweil könnte der Bund, wenn er will, mehr Menschen aufnehmen. Dafür könnte er zum Beispiel das Kontingent des Resettlement-Programms erhöhen und so in Absprache mit den Städten und Kantonen handeln. Es gibt also heute schon Möglichkeiten, wenn man denn wollte.

Ein anderer Weg ist die parlamentarische Initiative auf Bundesebene: Dort könnten wir explizit gesetzlich zusätzliche Möglichkeiten verankern, sodass Städte und Kantone selber ein Kontingent bestimmen können und entsprechend mehr geflüchtete Menschen aufnehmen könnten.

Eine Herausforderung, mit der wir uns immer wieder konfrontiert sehen: Wir würden bloss Symbolpolitik machen. Widerlegen können wir den Vorwurf nur, wenn der Bund uns ermöglicht, auf Worte Taten folgen zu lassen.

Zu Beginn des Ukraine-Kriegs ist dies auch erstmals passiert. Damals ist der Bund auf die Städte zugekommen und hat explizit angefragt, ob wir bereit wären, Menschen aus der Ukraine aufzunehmen. Das hat uns gezeigt, die Möglichkeit besteht eigentlich schon. In dieser Situation hat der Bund unser Angebot offensichtlich als Chance gesehen und für gut befunden. Bisher leider die Ausnahme – aber da bleiben wir dran.

Gibt es Ansätze, die Veränderungen, die sich seit dem Beginn des Ukraine-Krieges ergeben haben, auszuweiten und auch für andere Geflüchtete zu nutzen? Kann diese Bereitschaft des Bundes dann auch für Menschen von ausserhalb Europas genutzt werden?

Für uns ist es ein klares Ziel, dass alles, was man für ukrainische Geflüchtete ermöglicht hat, auch für Geflüchtete anderer Nationalitäten und mit anderem Status gilt. In der Stadt Zürich hat es verschiedene Vorstösse gegeben, was man für Ukrainerinnen und Ukrainer noch machen sollte. Dafür sind wir offen, aber für uns ist klar, dass das nachfolgend die Messlatte für das ist, was wir für alle Geflüchteten machen, egal woher sie kommen.

Für die Bundespolitik wage ich noch keine Prognose, wie sich der Ukraine-Krieg auf die generelle Flüchtlingspolitik auswirkt. Aktuell sehe ich eher Zeichen dafür, dass der Bund die aktuelle Situation dermassen als Ausnahme ansieht – insbesondere auch, was die Solidarität der Schweizer Bevölkerung betrifft – und deshalb lieber keine weitergehenden Schlüsse daraus zieht.

Es gibt viele zivilgesellschaftliche Strukturen, die sich ebenfalls im Migrationsbereich engagieren und die Arbeit der Städte und Kantone ergänzen. Wie kann das Zusammenwirken von Städten und solchen zivilgesellschaftlichen Strukturen gestärkt werden?

Es ist wichtig, dass man zum Thema Geflüchtete von verschiedenen Seiten her etwas tut und sich verlauten lässt. Das haben wir damals beim Osterappell gemerkt, wo auch die Kirchen dabei waren und gezeigt wurde, dass es nicht einfach einzelne Städte oder ihre politischen Vorsteher*innen sind, die etwas wollen, sondern dass das Engagement durch eine gewisse Breite in der Bevölkerung gestützt wird. Zivilgesellschaftliches Engagement hat ein grosses Potenzial und ist wichtig.

Das Engagement der Bevölkerung wird oft ähnlich blockiert, wie das der Städte. Es gibt beispielsweise immer wieder Initiativen, die sagen, wir haben privaten Wohnraum, wir würden gerne Menschen in unserer Mitte empfangen und unterstützen. Für Menschen aus anderen Ländern als der Ukraine geht das in der Regel nicht. Steht man da vor ähnlichen Problemstellungen, nur dass es dort Stadt oder Kanton sind, die blockieren?

Wir haben es hier als Stadt mit einer vielschichtigen Herausforderung zu tun. Wenn Geflüchtete aus der Ukraine eine private Unterbringung in einer Gastfamilie gefunden haben und diese funktioniert, so versuchen wir das Zusammenleben bestmöglich zu unterstützen. Unsere diesbezüglichen Möglichkeiten sind aber begrenzt, da unsere Strukturen darauf ausgerichtet sind, Geflüchtete zu betreuen und nicht Gastfamilien. Aktuell sind wir nur schon in dieser Kernaufgabe an der Belastungsgrenze. Was wir aktuell gar nicht bieten können, ist die Vermittlung von Geflüchteten an Gastfamilien. Will man dies gut und korrekt machen, so ist das enorm aufwendig.

Auch müssen wir uns bewusst sein: Die private Unterbringung ist kein Wundermittel. Funktionierende Verhältnisse bringen einen Mehrwert für alle. Aber Gäste und Gastfamilien stossen auch schnell einmal an ihre Grenzen.

Zurück zur Vernetzung: Die Stadt Zürich ist in zahlreichen Netzwerken aktiv und trägt verschiedene Label[4]. Sie tritt zum Beispiel als Solidarity City öffentlich auf. Nach welchen Kriterien werden solche Initiativen und Beteiligungen ausgewählt und was ist daran attraktiv für die Stadt?

Einerseits geht es um die Identifikation damit, wir wollen unser Commitment zeigen. Andererseits geht es um die Vernetzung, um miteinander etwas zu bewirken. Die Arbeit in den Netzwerken ist teils aufwendig und wurde durch die Corona-Pandemie eher erschwert. Aktuell konzentrieren wir uns mehr darauf, was wir in der Schweiz politisch bewegen können. 

Die Stadt Zürich hat sich schon oft solidarisch mit Menschen auf der Flucht erklärt und ist bereit, mehr geflüchtete Menschen aufzunehmen. Das sind die Kriterien, nach der die Seebrücke eine Stadt als Sicheren Hafen beschreibt. Wie steht die Stadt Zürich zu diesem Titel?

Unser Fokus liegt zurzeit auf der innenpolitischen Arbeit und wir konzentrieren uns aktuell auf die Städteallianz. Obwohl wir uns aktuell die Frage nach einem zusätzlichen Label oder wo wir uns international anschliessen können, nicht stellen, schliessen wir dies für die Zukunft nicht aus. Und wenn uns andere Organisationen zuschreiben, dass wir ein “Sicherer Hafen” sind oder uns wie ein solcher verhalten, so haben wir da sicher kein Problem damit. Schliesslich sind unsere Anliegen weitestgehend deckungsgleich.


[1] Sichere Häfen heissen geflüchtete Menschen willkommen – und sind bereit, mehr Menschen aufzunehmen. Gemeinsam bilden sie eine starke Gegenstimme zur europäischen Abschottungspolitik. Grundlage für die Anerkennung als Sicherer Hafen ist eine öffentliche Solidaritätserklärung.
https://seebruecke.org/sichere-haefen/haefen

[2] Die parlamentarische Initiative «Willkommensstädte und solidarische Gemeinden ermöglichen» forderte vom Bund, dass dieser der Aufnahmebereitschaft von Städten und Kantonen nicht mehr im Weg steht. Auch Raphael Golta, Sozialvorsteher der Stadt Zürich, äusserte sich unterstützend: «Die Stadt Zürich ist bereit, mehr geflüchtete Menschen aufzunehmen. Ich unterstütze alle Bestrebungen, die dies künftig möglich machen.» Der Vorstoss wurde im Juni 22 vom Nationalrat abgelehnt.
https://seebruecke.ch/demand/willkommensstaedte-und-solidarische-gemeinden-ermoeglichen/

[3] Die Kampagne evakuierenJETZT forderte mit dem Osterappell 2020 von Bundesrat und Parlament, möglichst viele Geflüchtete aus den Camps der Ägäis in die Schweiz zu holen. 50’458 Unterschriften und 132 unterstützende Organisationen setzten ein starkes Zeichen. Bis Ende 2020 erklärten sich 25 Städte und Gemeinden bereit, Geflüchtete aus Griechenland aufzunehmen. Kirchgemeinden stellen ebenfalls ihre eigenen Strukturen zur Verfügung, um die Aufnahme zu erleichtern. Alle Bemühungen und Hilfsangebote wurden von Karin Keller-Sutter, Vorsteherin des EJPD, abgelehnt oder ignoriert.
https://evakuieren-jetzt.ch/

[4] Im Netzwerk Solidarity Cities engagieren sich europaweit Städte für eine solidarische Migrationspolitik. Neben diesem beteiligt sich Zürich auch an der European Coalition of Cities against Racism, Eurocities, Mayors Migration Council oder Mayors for Peace.
https://seebruecke.ch/zurich/