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Entwicklung der Seenotrettung

Die europäischen Staaten kommen ihrer Pflicht zur Seenotrettung nicht mehr nach. Eine zivile Seenotrettung wird notwendig und rettet Leben.

Als die Migration über das Mittelmeer illegal wurde

Ein kurzer Blick ins letzte Jahrhundert: Nach 1945 begrüsste Europa zum Wiederaufbau und aufgrund eines kriegsbedingten Mangels die Einwanderung günstiger Arbeitskräfte. Die Wirtschaftskrise 1973 beendete das Wirtschaftswunder und veränderte die globale und europäische Geographie der Migrationsströme unwiderruflich. Denn die Reaktion der betroffenen Staaten bestand unter anderem darin, Migration zu erschweren. Die Verschärfung der Einreisebestimmungen legte den Grundstein der heutigen “Festung Europa” und der Kriminalisierung von Menschen, die nach Europa kommen.  

Seither haben weit mehr als 2.5 Millionen Menschen auf der Flucht das Mittelmeer auf den drei Hauptrouten überquert. Darunter die zentrale Route: Anfangs von Tunesien nach Italien, seltener von Algerien oder Ägypten und seit den 2000er-Jahren dann mit Libyen als primärem Abfahrtshafen. Berücksichtigt man nur die gesicherten Zahlen, forderte allein diese Route über 17.000 Tote seit 2014. Somit stellt das zentrale Mittelmeer die tödlichste Grenze der Welt dar.

Eine zivile Flotte entsteht

Im Oktober 2013 erregte ein Schiffbruch weltweite Aufmerksamkeit. Bei diesem ertranken rund 390 geflüchtete Menschen vor Lampedusa. Wenige Tage danach startete Italien eine grossangelegte Seenotrettungsoperation, die Mare Nostrum. Diese rettete innerhalb eines Jahres über 150.000 Menschen. Nachdem Italien die anderen Mitgliedsstaaten der EU wiederholt vergeblich aufgefordert hatte, eine Lösung zur Verteilung der Einsatzkosten sowie der geretteten Menschen zu finden, wurde Mare Nostrum im Oktober 2014 eingestellt. 

Die zögerlich folgende EU-Mission Triton hatte ihren Fokus auf der Grenzsicherung. Ihr Einsatzgebiet lag nur vor den europäischen Küsten und sie verfügte nur über ein Drittel der finanziellen Mittel der Vorgängermission. Sie rettete nicht annähernd so viele Menschen. Gleichzeitig flossen immer mehr europäische Gelder in den Aufbau der sogenannten libyschen Küstenwache.

Vor dieser Kulisse bildeten sich die ersten zivilen Rettungsorganisationen. Im Juni 2015 setzte die MS Sea-Watch von Lampedusa aus erstmals Segel in Richtung der Such- und Rettungzone (SAR-Zone) vor der libyschen Küste, gefolgt Schiffen von Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen / MSF) und später weiteren NGOs.

Der Wind dreht

Zu Beginn des Sommers 2017 befand sich die zivile Flotte mit 13 Schiffen und Sea-Watchs neuem Flugzeug Moonbird auf ihrem Höhepunkt. Statt sich unter Druck setzen zu lassen, bedienten sich die staatlichen Akteur*innen jedoch dieses Momentums, um sich selbst aus der Affäre zu ziehen. Dies führte zu einem starken Rückgang des Anteils der von staatlichen und EU-Schiffen geretteten Personen (von 66% im Jahr 2016 auf 49% im Jahr 2017), während der Anteil der zivilen Rettungen entgegengesetzt anstieg.

Gleichzeitig kam es zunehmend zur Bedrohung ziviler Rettungsschiffe durch die sogenannte libysche Küstenwache. Bereits im April 2016 hatten bewaffnete Milizen die Sea-Watch 2 bedroht und geentert, bevor sie Schiff und Besatzung im Mai 2017 durch ein halsbrecherisches Manöver erneut gefährdeten. Im August beschossen sie die Bourbon Argos und enterten diese. Im September entführten sie das Schnellboot Speedy inklusive Besatzung nach Libyen (die Crew kam kurz darauf wieder frei, das Boot nicht). Im November schließlich 2017 bedrängte ein libysches Patrouillenboot sogar versehentlich die deutsche Marine-Fregatte Mecklenburg-Vorpommerns.

In diesem Zeitraum begann auch die Kriminalisierung und staatliche Behinderung ziviler Seenotrettung, die bis heute andauert. Im Sommer 2017 versuchten italienische Behörden die Seenotrettungs-NGOs zur Unterzeichnung eines umstrittenen Verhaltenskodex zu drängen. Dieser sollte sie unter anderem zwingen, Polizist*innen an Bord zu nehmen. Nur zwei Tage nachdem sich Jugend Rettet geweigert hatte, diesen „Code of Conduct“ zu unterschreiben, wurde ihr Schiff – die Iuventa – wegen des angeblichen Kontaktes zu Schmugglern in Italien beschlagnahmt. Von diesem Klima der Feindseligkeit überfordert, zogen einige NGOs ihre Schiffe aus dem Mittelmeer ab.

Kurz darauf beschlagnahmte Malta das Rettungsschiff Lifeline und leitete ein Verfahren gegen den Kapitän ein. Sea-Watch 3 und Seefuchs lagen zu dieser Zeit ebenfalls in Maltas Hafen und wurden von lokalen Behörden in Mithaftung genommen. Als sämtliche geforderten Überprüfungen der Sea-Watch 3 einen knappen Monat später bestanden waren, wurde das Schiff trotzdem weiter festgehalten. Erst im Oktober 2018, also nach fast vier Monaten, konnte das Schiff Malta verlassen. Vier Monate, in denen über 500 Menschen im zentralen Mittelmeer ertranken.

Die Bewegung SEEBRÜCKE entsteht

Es sind auch vier Monate, in denen Zehntausende unter dem Banner der SEEBRÜCKE und der solidarischen Städte gegen das Sterben im Mittelmeer auf die Straßen gingen. Zusammen mit den zivilen Seenotrettungs-NGOs machen sie seither darauf aufmerksam: Dass private Organisationen die Seenotrettung im Mittelmeer anstelle von Staaten übernehmen, kann und sollte kein Dauerzustand werden! Sie fordern von der europäischen Politik sofort sichere Fluchtwege, eine Entkriminalisierung der zivilen und die Wiederaufnahme der staatlichen Seenotrettung und eine menschenwürdige Aufnahme von Geflüchteten.

Quelle: Dieser Text basiert auf der Chronik “No Borders Navy” von Chris Grodotzki, http://www.hinterland-magazin.de/wp-content/uploads/2019/10/Hinterland-Magazin_43-38.pdf