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Wegweiser zu Orten der europäischen Abschottung

9. June 2023
News Presse

Die Seebrücke Schweiz stellt im Juni Kunstinstallationen im öffentlichen Raum der Städte Luzern, Winterthur und Zürich auf. Damit wird auf die europäische Abschottungspolitik aufmerksam gemacht.

Orangene Wegweiser markieren im Rahmen der Aktion alltägliche Orte in der Schweiz und im Ausland, an denen Menschen isoliert und ihre Rechte verletzt werden. Das Ziel ist es, diese Orte sichtbar zu machen und Menschen zu erreichen, die sich sonst nicht aktiv mit dem Thema Flucht beschäftigen. So schaffen die Wegweiser eine Verbindung zwischen dem, was neben uns passiert und dem, was Menschen aus den Medien z.B. von den europäischen Aussengrenzen kennen. 

Denn: Das Thema Flucht geht uns hier vor Ort etwas an.

Oft scheint es, dass all diese Menschenrechtsverletzungen, diese unmenschlichen Lager, all diese Toten der Festung Europa so weit weg sind und nichts mit unserem Alltag und unserer Politik zu tun haben. Doch sind diese Verhältnisse einerseits von der europäischen Politik so gewollt und mindestens geduldet – die Schweiz macht und finanziert munter mit. Andererseits zieht sich diese Abschottungslogik und dieser menschenunwürdige Umgang bis vor unsere Haustür. 

Die Pfeile der Wegweiser zeigen deshalb mit Kilometerangaben auf Orte, an denen sich die Abschottungspolitik Europas in unserer unmittelbaren Nachbarschaft niederschlägt. Sie zeigen beispielsweise, wie nah etwa Ausschaffungsgefängnisse sind, wo das Migrationsamt liegt, welches diese Ausschaffungen umsetzt und in welchen Lagern Menschen tagtäglich inhaftiert werden.  

Egal ob Menschen an einem sicheren Grenzübertritt gehindert oder durch ein strenges Regime eingesperrt werden: Schutzsuchende werden systematisch isoliert, während ihnen ein menschenwürdiges Dasein verwehrt wird. Die Pfeile zeigen so nicht zuletzt auch auf Orte, die bekannte Symbole der europäischen Abschottung darstellen, wie z.B. das Mittelmeer – die tödichste Grenze der Welt. 

Mittels eines QR-Codes an den Wegweisern können interessierte Betrachter*innen mehr zu den Orten der europäischen Abschottungspolitik und zur Beteiligung der Schweiz erfahren und sich über Möglichkeiten des politischen Engagements gegen diese Politik informieren. So soll das Thema Flucht und Asyl im Stadtbild präsenter werden und Menschen Handlungsmöglichkeiten gegen dieses Unrecht aufgezeigt werden.

Aktuell stehen die Wegweiser an diesen Orten in der Stadt Luzern:

Das Experiment mit den Gastfamilien

19. December 2022
Presse

Mit dem Russland-Ukraine-Krieg wurde in der Schweiz die private Unter­bringung von Geflüchteten auf einen Schlag populär. Was dieses Modell kann – und was nicht.

Ein Beitrag der Republik von Jana Schmid (Text) und Philip Frowein (Bilder), 13.12.2022.

Die Schweiz sucht Betten. Die Asyl­zahlen steigen. Die Bundes­asylzentren sind voll. So voll, dass die «gemeinsame Notfall­planung von Bund und Kantonen» entschieden hat, Asyl­suchende früher als üblich auf die ganze Schweiz zu verteilen. Es werden Mehrzweck­hallen in Betrieb genommen. Und Asyl­verfahren beschleunigt. Mittler­weile rechnet der Bund mit rund 25’000 Asyl­gesuchen für das laufende Jahr – dazu kommen die 70’000 Geflüchteten aus der Ukraine.

Iryna Honcharenko und ihr Sohn sind schon etwas länger da. Sie haben sich eingelebt in der umgebauten ehemaligen Garage in Winter­thur. Wenn sie ihre Gastgeber im Garten der Wohn­genossenschaft trifft, spricht Iryna Honcharenko immer häufiger Deutsch statt Englisch. Heute hat sie weniger mit ihnen zu tun als am Anfang, wo sie ihr mit dem Papier­kram halfen oder zusammen ins Brocken­haus fuhren. Langsam findet sie sich zurecht in der Schweiz, wo sie sich vor dem Krieg in der Ukraine nicht hätte vorstellen können, je zu leben. «Wir hatten solches Glück, wie wir hier aufgenommen wurden», sagt sie.

Dass geflüchtete Personen privat unter­gebracht werden, war in der Schweiz noch nie so ein Thema wie in den letzten Monaten.

Was bleibt davon? Was kann es bewirken, wenn die Schweizerinnen ihre Haus­türen öffnen für Schutz­bedürftige? Und welche Rolle hat der Staat dabei?

Der erstaunliche Erfolg eines Experiments

24. Februar 2022: Krieg in Europa.

Kurz darauf verfiel die Schweiz in einen Aktivis­mus, der nach Jahren der restriktiven Asyl­politik ähnlich erstaunlich war wie der Kriegs­ausbruch selbst.

Eine zivile Solidaritäts­welle rollte über das Land. Zehn­tausende demonstrierten für Frieden, Hilfs­organisationen verzeichneten Spenden­rekorde, Fassaden und Kirch­türme wurden blau-gelb beleuchtet und ihre Glocken läuteten landesweit gegen den Krieg an.

«Wir wollen gross­zügig und unkompliziert sein», sagte Bundes­rätin Karin Keller-Sutter vier Tage nach Kriegs­beginn und läutete damit auch auf Behörden­seite einen ziemlich unschweizerisch anmutenden Pragma­tismus ein.

Innert kürzester Zeit stellten Privat­personen schweiz­weit 30’000 Betten zur Verfügung, um Geflüchtete aus der Ukraine bei sich zu Hause aufzunehmen.

Das Staats­sekretariat für Migration beauftragte die Schweizerische Flüchtlings­hilfe, die privaten Unter­bringungen zu koordinieren. Es war das erste Mal, dass es das tat. Der Bundes­rat aktivierte den Status S, mit dem Ukrainer rasch ein Aufenthalts­recht erhalten können, ohne ein Asyl­verfahren durch­laufen zu müssen. Auch das zum ersten Mal in der Geschichte des Migrations­rechts.

Und dann ging es los, das Experiment mit den Gast­familien.

Bis Mitte Juni hatte die Schweizer Zivil­bevölkerung bereits rund 80’000 Betten in 30’000 Gast­familien angeboten. Ende August waren etwa 40’000 Personen privat unter­gebracht – 60 Prozent der Schutz­suchenden aus der Ukraine in der Schweiz. Heute sind es laut Sozialdirektoren­konferenz weniger, genaue Zahlen seien jedoch nicht verfügbar.

In den Schweizer Medien wurde das Wort «Gastfamilie» zur Konstante: hoffnungs­volle Home­storys. Lob für die Solidarität der Schweizerinnen. Dann Frust von Gast­familien wegen Bürokratie­dschungel und mangelnder finanzieller Unter­stützung durch die Kantone. Später erste Berichte über Ermüdungs­erscheinungen, Konflikte beim Zusammen­leben und Umplatzierungen. Viel Sorge um einen Einbruch der zivilen Vorzeige­solidarität nach den Sommer­ferien. Und dann: das überraschende Ausbleiben dieses Einbruchs.

Die Bereit­schaft der Gast­familien liess kaum nach. Viele behielten ihre Gäste länger als erwartet. Bald war klar: Das ist mehr als nur ein Hype – und vielleicht auch mehr als die Übergangs­lösung, als welche die Unter­bringung in Gast­familien noch im Früh­jahr bezeichnet wurde.

Ist die private Unter­bringung also ein Erfolgs­modell?

Ja, sagt Eliane Engeler von der Schweizerischen Flüchtlings­hilfe. Die Erfahrungen seien sehr positiv. Das grosse Umplatzieren, das einige Kantone und Gemeinden befürchtet hatten, habe nicht stattgefunden. Oft funktioniere die private Unter­bringung auch länger­fristig gut – oder ende damit, dass die Gäste eine eigene Wohnung fänden.

Das Experiment Gast­familien ist geglückt. Wie lässt sich dieser Erfolg erklären?

Der Faktor Staat

«Die Haltung des Staates und die politische Botschaft sind essenziell», sagt Eliane Engeler. Es sei das erste Mal gewesen, dass sich die Bundes­behörden so klar positioniert hätten.

Denn Hilfs­bereitschaft sei grund­sätzlich da. Sie müsse aber abgeholt werden.

Das ist in der Vergangen­heit oft nicht geschehen.

Auch früher erhielt die Flüchtlings­hilfe viele Anrufe von Menschen, die Geflüchtete privat aufnehmen wollten. Etwa nach der Macht­übernahme der Taliban in Afghanistan. Doch das ist versandet – weil der Wille der Behörden, afghanische Geflüchtete aufzunehmen, viel kleiner war als heute bei den ukrainischen.

«Es braucht die politische Message der Behörden, dass man das Modell will», sagt Engeler.

Das Staats­sekretariat für Migration sieht das ein wenig anders: Grund­sätzlich seien die Kantone zuständig für die länger­fristige Unter­bringung von Asyl­suchenden. Der Bund sei also nicht primär in der Verant­wortung. Und weil reguläre Asyl­suchende ohne Status S immer wieder anwesend sein müssten für Verfahrens­schritte, ergebe es in dieser Zeit wenig Sinn, ausser­halb eines Bundes­asylzentrums zu leben.

In Winter­thur sitzen Iryna Honcharenko und zwei von ihren Gast­gebern auf Holz­stühlen in der temporären Wohnung des ukrainischen Gasts. Die Wohn­genossenschaft – sechs Ehe­paare im frühen Pensions­alter – hatte hier bis vor kurzem Suppe gekocht und Sitzungen abgehalten. Bei so einer Sitzung wurde ein­stimmig entschieden, den Raum ukrainischen Geflüch­teten zur Verfügung zu stellen.

Iryna Honcharenko ist aus der Ukraine geflüchtet.
Sie sagt über ihr neues Zuhause: «Wir hatten solches Glück.»

«Ich war erstaunt, wie unbüro­kratisch alles funktioniert hat», sagt einer der Gast­geber, Tilo Nisoli. Untypisch für die Schweiz habe sich das angefühlt. Sie seien sogar persönlich von der Stadt Winter­thur informiert worden, dass sie einen Unterstützungs­beitrag beantragen können. «Alles ist so gut organisiert», fällt ihm Iryna Honcharenko ins Wort. Sie spricht lauter als die beiden Männer, und mehr. Manch­mal füllen sich ihre Augen plötzlich mit Tränen, und sie spricht noch schneller weiter. So einfach sei es hier. So freundlich. So nett.

Die Sache mit den Kantonen

Die Kantone sind grössten­teils verantwortlich dafür, geflüchtete Personen unter­zubringen. Dass sie das sehr unter­schiedlich handhaben, kann ein Problem sein.

Es funktioniere in jenen Kantonen klar am besten, die die Gast­familien unter­stützen und eng begleiten, sagt Eliane Engeler von der Flüchtlings­hilfe. Viele Schwierig­keiten liessen sich mit einer guten Betreuung abfedern.

Das zeigt sich etwa in Basel-Stadt, wo die private Unter­bringung stark gefördert wird. Der Kanton musste bisher kaum jemanden umplatzieren. In Luzern hingegen, wo wenig auf das Gastfamilien­modell gesetzt wird, hat es bis Ende Oktober 270 Umplatzierungen gegeben. Auf Anfrage bezeichnet der Kanton die private Unter­bringung als «heraus­fordernd für alle Beteiligten».

Die Kantone erhalten vom Bund pro Person mit Status S eine Pauschale von rund 1500 Franken monatlich für Unter­bringung und Betreuung. Wie viel davon an Gast­familien geht, entscheiden die Kantone. Eine Umfrage vom Juni zeigt: Sie haben verschiedene Lösungen.

Während die meisten Kantone den Gast­familien einen Beitrag zwischen 100 und 270 Franken monatlich zahlen, delegieren andere diese Frage an die Gemein­den oder entrichten den ukrainischen Gästen einen Betrag, den sie weiter­geben müssen. Drei Kantone entschädigen die Gast­familien gar nicht. Sie bezahlen höchstens eine Miete, wenn ein Miet­vertrag über eine eigen­ständige Wohn­einheit abgeschlossen wird.

Diese Eigen­regie findet die SP-National­rätin Céline Widmer problematisch. Per Motion fordert sie, dass Gast­familien schweiz­weit einheitlich und ausreichend unter­stützt werden. Und damit: eine gesetzliche Grund­lage für das Gastfamilien­modell auf Bundes­ebene.

Wenn überall betont werde, wie wichtig die Gast­familien seien, dann müsse man das gesetzlich auch abbilden, findet Widmer.

Der Bundes­rat findet das nicht, weil die Kantone zuständig seien. Und sowohl die Sozial­direktoren­konferenz als auch das Staats­sekretariat für Migration finden auf Anfrage: Es sei noch zu früh, um über eine gesetzliche Grund­lage zu diskutieren. Das müsse nach der Krise geprüft werden. Aktuell brauche man die volle Energie, um die «grösste Flucht­welle seit dem Zweiten Welt­krieg» gut zu meistern, schreibt Gaby Szöllösy, General­sekretärin der Sozialdirektoren­konferenz.

Das Modell funktioniert also vor allem dann, wenn die Behörden es fördern. Was aber unterscheidet die private Unter­bringung von staatlichen Strukturen? Und was bringt sie – den Gästen, den Gast­gebern, dem Staat?

Mittendrin statt aussen vor

Iryna Honcharenko ist in einem der guten Quartiere Winter­thurs unter­gekommen. Hier dominiert das Eigen­heim. Schmucke historische Backstein­häuser mit wilden, aber nicht verwilderten Gärten und Garten­zäunen, deren Farbe man bewusst etwas abblättern lässt. Wenig Verkehr. Elektro­velos, oder solche mit hand­gefertigtem Stahl­rahmen. Ein typisch links­akademisches Umfeld. Ein Quartier, dem man wenig soziale Probleme attes­tieren würde und einen «geringen Ausländer­anteil».

Ein Quartier also, in dem selten jemand wohnt, dessen Leben in der Schweiz mit einem Asyl­gesuch begonnen hat.

Und genau darin liegt die Stärke des Gastfamilien­modells: Man begegnet sich.

«Private haben ein Potenzial, das der Staat nicht hat», sagt Eliane Engeler von der Flüchtlings­hilfe. Bei Privaten sind Geflüchtete mitten in der Gesell­schaft, sobald sie hier sind. Das mache das Modell zum «Integrations­booster» für die Gäste.

Und für die Gast­geberinnen – und deren Freunde, Gross­eltern, Nach­barinnen – zu einem effektiven Präventions­mittel gegen Fremden­feindlichkeit.

Gast­geber Tilo Nisoli sagt, der Aus­tausch mit Iryna Honcharenko habe ihm die Augen geöffnet. Das Welt­geschehen habe ihn vorher schon beschäftigt, aber Krieg und Flucht fühlten sich immer weit weg an. Jetzt sei das anders. Sein Mitbewohner Hans Schütz erzählt, wie ihm dank Iryna Honcharenko klar geworden ist, welche Privilegien man in der Schweiz habe: zum Beispiel den Luxus, auf Improvisation verzichten zu können.

Die Gast­familien seien eine neue Anspruchs­gruppe im Asyl­wesen, sagt Eliane Engeler. Viele hätten ihre Gäste eng begleitet und so zum ersten Mal hautnah erfahren, was etwa in einem Bundes­asylzentrum geschieht oder wie die Asyl­sozialhilfe ausgestaltet ist.

Gast­familie zu sein, schafft also auch ein Bewusst­sein dafür, was es heisst, mit einer Flucht­geschichte in die Schweiz zu kommen. Und wenn das in der Mehrheits­gesellschaft ankommt, kann es Forderungen von Menschen aus dem Asyl­bereich stärkeren Rückhalt geben.

«Alles ist so gut organisiert.»

Zu diesem Schluss kommt auch die Soziologin Sarah Schilliger. Sie hat eine Studie zu Freiwilligen­arbeit mit Geflüchteten in der Schweiz verfasst. «Bekommen Flücht­linge ein Gesicht, distanzieren sich bisher eher skeptische Menschen von einem verallgemeinernden Diskurs», schreibt sie. Und: Wenn beide Seiten vom Aus­tausch profitieren, haben weniger Menschen die Vorstellung, dass alles, was Geflüchteten zugute­kommt, auf Kosten der Altein­gesessenen gehe.

Schilliger weist aber auch auf die Gefahr hin, dass Freiwilligen­arbeit zum «Lücken­füller» im Sozial­staat werde und damit den Anschein wecke, dass es keine politischen Lösungen mehr brauche.

Es liegt auf der Hand, dass der Staat von der effektiven und kosten­losen Integrations­arbeit profitiert, die Private dabei leisten – Sprach­erwerb, der Gang zu Ämtern, die Vermittlung bei kulturellen Fragen.

Klar ist: Ziviles Engage­ment kann eine Chance für das Asyl­wesen sein, weil Private Dinge können, die der Staat nicht kann. Menschlich­keit zum Beispiel. Und dafür sorgen, dass Geflüchtete und Altein­gesessene sich wirklich begegnen.

Der Fach­begriff dafür: community sponsorship. Im Rahmen einer Studie hat sich das Staats­sekretariat für Migration kürzlich mit dessen Potenzial auseinander­gesetzt. Die Analyse fällt aber eher dünn aus: Im Vorder­grund steht vor allem die Frage, wie die Kompetenzen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden verteilt werden.

Das erfolgreiche Experiment mit den ukrainischen Gästen hat gezeigt: Die Behörden dürfen sich nicht zurück­lehnen. Was passiert, wenn sie es trotzdem tun, illustriert ein Beispiel aus Zürich, das nichts mit der Ukraine zu tun hat.

Warum eine Pflege­familie nicht mehr mitmacht

Der Kanton Zürich sucht dringend Pflege­familien. Er hat dafür im Sommer eine Kampagne gestartet. «Als Pflege­familie geben Sie einem Kind ein zweites Zuhause», heisst es in einem Promo-Video. «Bei Ihnen darf es unbeschwert aufwachsen.»

Simone Steiner aus Wetzikon weiss: Das ist eine Herkules­aufgabe. Eine, die sie liebt. Sie hat ihr in den letzten sechs Jahren viel gewidmet: Hingabe, Zeit, Geduld, Geld. Jetzt sitzt sie an ihrem Küchen­tisch und sagt nach langem Zögern: «So, wie es jetzt ist, kann ich nicht mehr weiter­machen. Wenn ich alles auf die Waag­schale lege, geht es einfach nicht mehr auf.»

Drei Pflege­kinder hat sie gemeinsam mit ihrem Ehe­mann nacheinander betreut, neben der eigenen Tochter. Zwei waren unbegleitete minder­jährige Asyl­suchende. Fnan Teklehaimanot war der erste. Heute ist er 19 Jahre alt und wohnt in einer WG in Zürich, wo er bald seine Lehre abschliesst.

Fnan Teklehaimanot ist mit 11 Jahren aus Eritrea geflüchtet.
Und ist im letzten Jahr seiner Berufslehre als Hauswart.

Gerade war er mit der Familie Steiner den Gross­vater im Engadin besuchen, mit dem er manch­mal auch zu zweit wandern geht. «Sie sind meine Ersatz­familie hier in der Schweiz», sagt er. Für beide Seiten war es alles andere als einfach, als er als 13-Jähriger aus dem Jugend­asylzentrum Lilienberg zu ihnen zog und überrollt wurde von den Traumata seiner eineinhalb­jährigen Flucht aus Eritrea.

Auch dank viel Arbeit ist die Beziehung bis heute eng. Fnan Teklehaimanot ist an Weih­nachten dabei, in den Ferien und immer dann, wenn er etwas Geborgen­heit braucht. Pflege­kind ist er zwar nicht mehr, doch zur Familie gehört er nach wie vor.

«Im Zentrum Lilien­berg hätten sich alle meine Kollegen gewünscht, bei einer Familie leben zu können», sagt er.

«Ein Pflege­kind zu betreuen, ist enorm viel Aufwand», sagt Steiner. Sie hat mehrere Weiter­bildungen absolviert, obligatorische und frei­willige. Gerade macht sie einen CAS in Trauma­pädagogik. Das letzte Pflege­kind hat die Familie diesen Früh­ling verlassen. Und auch wenn sie es gerne möchte, kann sich Steiner nicht vorstellen, unter den gegebenen Rahmen­bedingungen ein neues Kind aufzunehmen.

Früher bekam sie für ein Pflege­kind einen Betreuungs­beitrag von 115 Franken pro Tag, zusätzlich zu einer Neben­kosten- und Verpflegungs­pauschale. Seit im Kanton Zürich im Januar 2022 ein neues Kinder- und Jugendheim­gesetz in Kraft getreten ist, sind es noch 51 Franken. Und auch das nur, wenn das Pflege­verhältnis bereits vor Januar 2022 bestand.

Würde Simone Steiner heute einen unbegleiteten minder­jährigen Asyl­suchenden neu als Pflege­kind aufnehmen, wäre nicht klar, ob sie über­haupt einen Betreuungs­beitrag erhielte.

Der Kanton Zürich hat diese Frage bis heute – fast ein Jahr nach der Gesetzes­änderung – für Kinder aus dem Asyl­bereich nicht geklärt.

Einige Finanzierungs­fragen seien in Klärung, schreibt das Zürcher Sozial­amt dazu bloss. Während­dessen sucht der Kanton weiter Pflege­familien.

Wie die private Unter­bringung zum Druck­mittel wurde

Im Kanton Bern zeigt sich derweil: Steht ziviles Engagement den migrations­politischen Zielen der Behörden entgegen, hat es einen besonders schweren Stand.

Jürg Schneider ist seit vielen Jahren Aktivist. Und er ist wütend. Darüber, wie die Berner Migrations­behörden mit einer Errungen­schaft des zivilen Engagements umgehen: der privaten Unter­bringung von abgewiesenen Asyl­suchenden.

Diese ist im Kanton Bern seit einigen Jahren möglich. Per 1. November 2022 ist sie – bisher einmalig in der Schweiz – auch gesetzlich geregelt.

Das ist keine Selbst­verständlichkeit.

Denn abgewiesene Asyl­suchende stehen in einem komplizierten Verhältnis zum Staat: Sie sind hier, obwohl sie nach einem Asyl­verfahren rechts­kräftig weg­gewiesen wurden und die Schweiz verlassen müssten.

Dieser Zustand kann lange andauern. Etwa dann, wenn eine Ausschaffung nicht möglich ist, weil mit dem Herkunfts­staat kein Rück­übernahme­abkommen besteht oder weil Identitäts­papiere fehlen. Und die Betroffenen das Land nicht verlassen können oder wollen.

Der Versuch der Behörden, an einer konsequenten Asyl­politik fest­zuhalten: Sie machen den abgewiesenen Asyl­suchenden das Leben so unbequem wie möglich, um sie dazu zu bewegen, das Land zu verlassen.

Sie werden aus der Sozial­hilfe ausgeschlossen und erhalten nur die grund­rechtlich garantierte Not­hilfe – rund 10 Franken pro Tag. Erwerbs­tätigkeit ist ihnen verboten. Und sie werden in sogenannten Rückkehr­zentren unter­gebracht – Kollektiv­unterkünfte mit sehr wenig Komfort und sehr viel Kontrolle.

Dieses Nothilfe­regime wird von Menschenrechts­organisationen seit Jahren kritisiert.

Im Kanton Bern zum Beispiel von der Aktions­gruppe Nothilfe, der auch Jürg Schneider angehört. Die zivile Organisation hat dazu beigetragen, dass abgewiesene Asyl­suchende, die lange in der Schweiz sind, bei Privaten leben und so zumindest einigen Restriktionen entkommen können. Rund 140 Personen sind im Kanton Bern privat unter­gebracht. Seit Anfang November erhalten auch sie die 10 Franken Not­hilfe pro Tag. Die Wohnung finanzieren weiter­hin ihre Gast­geber.

Damit zu dem Thema, das Jürg Schneider umtreibt.

Im Unter­geschoss einer Kirche erzählt Aref Rostami seine Geschichte. Im Kirchen­saal übt jemand Posaune. An der Wand hängen Porträts von Hochzeits­paaren. Draussen glotzen Kühe den Autos nach, die selten vorbei­fahren und noch seltener anhalten.

Rostami lebt seit acht Jahren in der Schweiz. 2018 wurde sein Asyl­gesuch abgelehnt. Seit ein­einhalb Jahren ist der 33-jährige Iraner privat unter­gebracht, bei einem Pfarrer aus dem 2000-Seelen-Dorf Niederscherli in der Nähe von Bern.

Aref Rostami: Die Behörden wollen ihn in den Iran zurück­schaffen.
Heute lebt er in einem Dorf bei Bern.

In den Iran zurück­zukehren, kommt für ihn unter keinen Umständen infrage. Sein Leben wäre in Gefahr, sagt er. Auch weil er vom Islam wegkonvertiert ist. Die Migrations­behörden glauben ihm nicht. Und würden ihn, hätte er denn einen Pass, in den Iran zurück­schaffen. Doch sie konnten ihn bisher nicht dazu bringen, sich einen Pass zu beschaffen.

Und hier kommt die private Unter­bringung ins Spiel.

Rostami sagt, sie rette ihn davor, in einer psychia­trischen Klinik zu landen. «Ich bin seit acht Jahren hier und darf nichts, gar nichts tun. Das Leben in einem Rückkehr­zentrum macht mich verrückt. Nur weil ich da nicht sein muss, bin ich jetzt einiger­massen stabil.»

Jeweils sechs Monate darf er bei seinem Gast­geber bleiben, dann braucht es wieder eine neue Verein­barung mit dem kantonalen Migrations­dienst. Im Sommer stand die dritte Verlängerung an.

Einen Monat davor erhielt er eine E-Mail vom Migrations­dienst: Sie werde nur genehmigt, wenn er bis dahin bei der iranischen Botschaft war, um einen Pass zu verlangen.

Das war neu. Bisher war das nie ein Thema gewesen bei der Verlängerung.

Rostami ging nicht zur Botschaft. Dafür sprach er mehr­mals persönlich beim Migrations­dienst vor. Auch sein Gast­geber setzte sich ein. Es gebe keine Grund­lage, die private Unter­bringung zu beenden. Alles laufe tadellos.

Am letzt­möglichen Tag verlängerte der Migrations­dienst dann doch noch. Zum letzten Mal, wie es hiess. Habe er in einem halben Jahr immer noch keinen Pass verlangt, sei end­gültig Schluss.

«In einem halben Jahr wird meine Situation nicht anders sein als heute», sagt Rostami. Die Druck­versuche des Migrations­dienstes setzen ihm stark zu. Trotzdem: Er könne nicht zur iranischen Botschaft gehen.

Seine Situa­tion ist kein Einzel­fall. «Seit dem Früh­ling beobachten wir diese Praxis der Migrations­behörden», sagt Jürg Schneider. Der Aktivist und pensionierte Professor für Betriebs­wirtschaft geht von einer neuen internen Weisung des Kantons aus.

Zahl­reiche solcher Meldungen und E-Mails sind laut Schneider in den letzten Monaten verschickt worden – besonders häufig an iranische und eritreische Staats­angehörige.

In etwa einem Dutzend Fällen wurde die private Unter­bringung abgebrochen. Gegen den Willen der Gast­geberinnen. Die betroffenen Personen müssen wieder in einem Rückkehr­zentrum leben – oder unter­tauchen.

Das Berner Amt für Bevölkerungs­dienste bestreitet eine Praxis­verschärfung. Auch eine interne Weisung habe es nie gegeben. Vielmehr sei es eine gesetzliche Pflicht, bei der Beschaffung von Dokumenten mitzu­wirken. Diese gelte für abgewiesene Asyl­suchende, egal wo sie unter­gebracht seien. Tun sie dies nicht, könne die Privat­unterbringung recht­mässig beendet werden.

Für Schneider geht es um ziviles Engage­ment, das einen Zustand erträglicher machen will, der von den Behörden herbei­geführt ist.

Dass die Behörden diese Solidarität als Druck­mittel brauchen, um die eigenen Ziele zu erreichen – das ist es, was ihn so wütend macht.

Was Private brauchen, damit es trägt

Die Asyl­zahlen steigen. Die Bundes­asylzentren sind voll. Auch die Kantone suchen hände­ringend nach Unter­künften. Viele Gesuch­steller sind minder­jährig und unbegleitet, etwa aus Afghanistan. Das Wort «Flüchtlings­krise» ist zurück im öffentlichen Diskurs.

Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass die private Unter­bringung einen wichtigen Beitrag leisten kann – wenn Staat und Private dasselbe wollen. Wenn sie eine nachhaltige Ergänzung im Asyl­system sein soll, dürfen zwei Dinge nicht vergessen gehen.

Erstens: Weil Private nicht der Staat sind, dürfen sie grund­sätzlich helfen, wann und wem sie wollen.

Es ist populärer, Familien zu unter­stützen als allein­stehende Männer. Wenn die Helferin keine Lust mehr hat, fällt das Angebot wieder weg. Und: Es ist offen­sichtlich, dass gewisse Herkunfts­staaten beliebter sind als andere.

Der Staat hingegen muss diskriminierungs­frei die Grund­rechte aller wahren, die auf seinem Staats­gebiet gelandet sind. Das ist ein entscheidender Unter­schied – und ein Grund, weshalb Private nicht für allzu grund­sätzliche Bedürfnisse zuständig sein sollten. Denn ziviles Engage­ment kann soziale Rechte nicht ersetzen.

Und zweitens: Ziviles Engagement funktioniert dann am zuverlässigsten, wenn es sich zwar nicht wie ein Geschäfts­modell, aber eben auch nicht wie reine Aufopferung anfühlt. Eine angemessene finanzielle oder beratende Unter­stützung wiegt die Eigen­leistung von Privaten vielleicht nicht gänzlich auf. Aber sie sollte sie zumindest anerkennen. Und nicht unnötig kompliziert machen. Denn auch wenn es um Solidarität geht – soll das Potenzial von Privaten wirklich genutzt werden, brauchen sie einen fairen Deal.

Augenwischerei durch Bundesrätin Karin Keller-Sutter

18. December 2020
Presse

Medienmitteilung von Evakuieren JETZT vom 18.12.20

Die 37 minderjährigen Geflüchteten hätten längst in der Schweiz aufgenommen werden sollen

Während sich im neuen Geflüchtetenlager auf der Insel Lesvos die unwürdigen Lebensbedingungen verschlechtern (eisige Temperaturen, keine Heizungen, keine Duschen, Überschwemmungen, Zelte ohne Bodenbelag usw.) und Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Grenzwächter*innen fast täglich vorkommen, kündigt Bundesrätin Karin Keller-Sutter auf Weihnachten hin an, 37 unbegleitete Minderjährige in die Schweiz holen zu wollen. Diese Ankündigung ist ein kommunikatives Manöver, welches die bisherige Untätigkeit der Regierung verschleiern soll.

Altes Versäumnis in neuem Mantel kommuniziert

17 der kommunizierten Minderjährigen, die aufgenommen werden sollen, besitzen einen familiären Bezug zur Schweiz. Der Bund ist hier gesetzlich sowieso verpflichtet, zu handeln. Bei den 20 verbleibenden Jugendlichen und Kindern handelt es sich um jene Zahl, deren Aufnahme Bundesrätin Keller-Sutter bereits im September angekündigt hat. Bis heute sind diese anscheinend nicht in die Schweiz eingereist. Die Justizministerin rollt also lediglich ein längst überfälliges Versäumnis medial neu auf. 

Zwar begrüssen wir es, dass 37 Minderjährige aus dieser Hölle auf den griechischen Inseln herauskommen, bedauern aber, dass der Bundesrat die dramatische Situation weiterhin ignoriert und keinen politischen Willen zeigt, ernsthafte Hilfe zu leisten. Zur Erinnerung: Während des Kosovo-Krieges hat die Schweiz in einem Jahr 53’000 Geflüchtete aufgenommen; während der Ungarn-Krise in den 50er-Jahren waren es rund 13’000 Menschen. Zahlen, die meilenweit von den angekündigten 37 Jugendlichen entfernt sind.  

Zivilgesellschaft erhöht Druck

Angesichts dieser sträflichen Untätigkeit von Regierung und Behörden verstärkt die Zivilgesellschaft ihren Druck. Zusätzlich zu den 50’000 Menschen und 140 Organisationen, die den Aufruf “Evakuieren JETZT” unterstützt haben, haben sich inzwischen 25 Städte und Dörfer bereit erklärt, Geflüchtete aufzunehmen. Kirchen und Kirchgemeinden stellen ebenfalls ihre eigenen Strukturen zur Verfügung, um die Aufnahme zu erleichtern. Solche Hilfsangebote landen jede Woche auf dem Schreibtisch von Frau Karin Keller-Sutter, die sich weiterhin taub stellt.

Die Schweiz muss sofort handeln

Nach fünf Jahren haben es Griechenland und die EU immer noch nicht geschafft, menschenwürdige Bedingungen in den Lagern auf den griechischen Inseln zu schaffen. Die Schweiz als Mitglied des Schengen-Raums profitiert vom Dublin-System und ist daher an den katastrophalen Zuständen an den EU-Aussengrenzen mitverantwortlich. Der von der Schweiz mitfinanzierten Grenzschutzagentur Frontex wurden in letzter Zeit zudem massive Menschenrechtsverletzungen an Geflüchteten in der griechischen Inselregion nachgewiesen. Die Beteiligung der Schweiz an Frontex untergräbt daher die Glaubwürdigkeit eines ernsthaften humanitären Engagements unseres Landes. Mit dem Wintereinbruch und der zweiten Welle des Coronavirus müssen die Schweizer Regierung und die Behörden dringend ihren Verpflichtungen nachkommen und die folgenden Massnahmen treffen:

  • Einstellung der Zahlungen an Frontex und Abzug aller Grenzbeamt*innen, bis die Untersuchungen der Vorfälle abgeschlossen sind und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden
  • Nutzung aller verfügbaren Ressourcen, um mehrere Tausend Geflüchtete von den griechischen Inseln aufzunehmen Hinwirkung auf eine gesamteuropäische Lösung zur Evakuierung der griechischen Flüchtlingscamps, nachdem die Schweiz ihren Beitrag geleistet hat.

Es gibt nur eine praktikable Lösung für die Situation auf Lesbos, Samos und den anderen griechischen Inseln: Evakuieren JETZT. Die Schweiz kann und muss einen grösseren Beitrag leisten!

Medienmitteilung als PDF (deutsch)
Communiqué de presse PDF (français)
Comunicato stampa PDF (italiano)

Stadt Bern soll Sicherer Hafen werden!

5. November 2020
Presse

Medienmitteilung der SEEBRÜCKE Schweiz vom 05.11.20:

Am Donnerstag wird in Bern von der Alternativen Linken Bern, der JUSO, der Partei der Arbeit Bern, der Grünalternativen Partei, und der Sozialdemokratischen Partei das dringliche Postulat “Stadt Bern soll Sicherer Hafen werden!” eingereicht. Mit der Annahme soll die Stadt ihre langfristige Bereitschaft erklären, sich Menschen auf der Flucht gegenüber solidarisch zu verhalten und den Bund in der Aufnahme geflüchteter Menschen in der Schweiz unterstützen.

Ein sicherer Hafen („place of safety“) ist im eigentlichen Sinne der Seenotrettung ein Ort, an dem die Rettungsaktion beendet werden kann. An dem die Menschen, die auf dem Mittelmeer gerettet wurden, in Sicherheit ankommen können. Der Weg über das Mittelmeer ist mit über 20.000 Toten in den letzten 20 Jahren eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt. Dazu trägt die Schweiz mit ihrer Politik der Abschottung wissentlich und willentlich bei und sieht dem Sterben der Flüchtenden an den europäischen Grenzen zu.

Städte, die sich an der Initiative „Seebrücke – Schafft sichere Häfen“ beteiligen, heissen geflüchtete Menschen willkommen – und sind bereit, mehr Menschen aufzunehmen. Gemeinsam bilden sie eine starke Gegenstimme zur europäischen Abschottungspolitik, an der sich die Schweiz beispielsweise durch transnationale Abkommen, die finanzielle Unterstützung der Grenzschutzagentur Frontex oder das Unterlassen einer staatlichen Seenotrettungsmission beteiligt. Diese Abschottungspolitik verhindert nicht, dass sich Menschen auf die Flucht begeben. Sie macht diese Flucht, beispielsweise über das Mittelmeer, lediglich gefährlicher und fordert Menschenleben.

“Als SEEBRÜCKE schaffen wir Sichere Häfen mitten in Europa. So können sich auch Städte, die nicht geografisch an der Küste liegen, solidarisch erklären. Bern kann hier als erster Sicherer Hafen der Schweiz vorangehen”, sagt Lioba Junker von der SEEBRÜCKE Bern.

Die Stadt Bern hat sich bereits in der Vergangenheit durch verschiedene Aktionen, das Überweisen von Vorstössen und öffentliche Solidaritätsbekundungen klar zu diesem Thema positioniert und ihren Standpunkt in Bezug auf eine menschenwürdige Aufnahme von Schutzsuchenden deutlich gemacht.

Tabea Rai sagt dazu: “Die Situation verschärft sich durch die kalte Jahreszeit und Covid-19 Ausbrüche in verschiedenen Camps. Das Anliegen duldet keinen Aufschub mehr. Wir können nicht verantworten, dass an den Grenzen Europas die Menschenrechte einfach ausgesetzt werden. Wir müssen unsere Verantwortung als Land, aber auch als Stadt sofort wahrnehmen.“

Leider wurde trotz humanitärer Notlage vor den Grenzen Europas, die Dringlichkeit abgelehnt.

Alle Details zum Vorstoss.

Offener Brief zur Evakuierung Morias

1. October 2020
Presse


An
Karin Keller-Sutter
Bundesrätin
Bundeshaus West
3003 Bern​



Offener Brief der SEEBRÜCKE Schweiz

Bern, 25. September 2020

Sehr geehrte Frau Bundesrätin Keller-Sutter,

Die katastrophale Situation im Geflüchtetenlager Moria war schon lange vor dem Brand Anfang September bekannt. Denn während Schutzsuchende gezwungen wurden, ohne Hoffnung in menschenunwürdigen Verhältnissen zu leben, verschloss die Politik in Europa und in der Schweiz die Augen und stritt jegliche Verantwortung ab. Nachdem die Situation sich durch den Brand noch einmal verschlimmert hat, ist es unverantwortbar, nicht zu handeln.


Auch die Schweiz sollte sich hier angesprochen fühlen, denn seit 2008 profitiert sie von der Dublin Verordnung und ihrer geographischen Lage im Zentrum Europas ohne europäische Aussengrenzen. Dazu kommt, dass die Zahl der eingehenden Asylanträge bereits seit fünf Jahren sinkt. Während
2015 noch knapp 40.000 Menschen in der Schweiz Asyl beantragten, sind es in diesem Jahr kaum noch 10.000. Das ist ein Rückgang von mehr als 75%.

Diesen Rückgang sehen auch die acht grössten Städte der Schweiz, die sich bereits seit längerem beim Bund dafür einsetzen, mehr Menschen in ihrer Mitte willkommen zu heissen, als es eigentlich der Verteilungsschlüssel vorsieht. Die Antwort vom Bund lautete, dass die Kapazitäten nicht
vorhanden seien. Aber weiss nicht jede Stadt oder jede Gemeinde selbst am besten, wie es in den jeweiligen Asylzentren aussieht, was also wirklich die Kapazitäten sind?


Sehr geehrte Frau Bundesrätin, wenn sich die acht grössten Schweizer Städte bereit erklären, mehr Menschen aufzunehmen, dann meinen sie es auch so. Dann ist das nicht nur eine Überlegung am Rande des Geschehens. Dann sollten auch die Kompetenzen des Bundes dieser Entscheidung nicht
im Wege stehen, denn letztendlich werden das Willkommenheissen und die Unterbringung auch nicht vom Bund übernommen. Asylpolitik funktioniert nicht allein von oben. Gemeinden und Kantone sollten unbedingt mit einbezogen und respektiert werden.


Aus diesem Grund fordern wir Sie auf, Ihre derzeitige Asylpolitik zu überdenken und sich zu fragen, ob es nicht einfach eine Selbstverständlichkeit sein sollte, in dieser humanitären Notsituation zu
handeln. Holen Sie Menschen aus den griechischen Lagern zu uns in die Schweiz, dorthin wo Kapazitäten vorhanden sind! Bieten Sie Menschen die Möglichkeit, ein Dach über dem Kopf zu haben und sich effektiv vor Covid-19 schützen zu können! Haben Sie Mut ihrer menschlichen Verantwortung nachzukommen und solidarisch mit all unseren Mitmenschen zu sein!


Freundliche Grüsse
SEEBRÜCKE Schweiz

Kanton Luzern setzt sich nicht ein

14. September 2020
Presse

Der Kanton Luzern lehnt die Standesinitiative zur Aufnahme von Menschen auf der Flucht von SP-Kantonsrätin Sara Muff ab. Sie forderte bereits im Mai, dass sich Luzern beim Bund für die Aufnahme Geflüchteter von den griechischen Inseln einsetzen soll. Kantonsrätin Sara Muff äussert sich enttäuscht zur heutigen Abstimmung: „Der Kantonsrat Luzern hat sich heute entschieden, nicht zu handeln. Er macht sich somit mitschuldig an der Situation auf Lesbos. Solange Politiker*innen nur das tun, was sie nicht aus ihrem Verantwortungsbereich entfernen können, geht das Sterben an den europäischen Aussengrenzen weiter.“


„Diese Entscheidung weniger als eine Woche nach dem verheerenden Brand in Moria können wir kaum fassen. Es ist absolut unverständlich, dass der Kanton nicht bereit ist, in dieser Notlage den Bund zur Aufnahme aufzufordern. Er könnte so für die neun aufnahmebereiten Städte, darunter die Stadt Luzern, den Weg frei machen“, sagt Anne Noack von der SEEBRÜCKE Schweiz. Am vergangenen Mittwoch ist das Geflüchtetenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos niedergebrannt. Knapp 13.000 Menschen sind seither obdachlos und auf den Strassen der Insel kaum versorgt. Die einzige akzeptable Lösung für diese humanitäre Katastrophe ist die sofortige Evakuierung aller Geflüchteten von der Insel.


In der Schweiz haben die neun Städte Bern, Basel, Zürich, Winterthur, St. Gallen, Luzern, Genf, Lausanne und Delemont ihre Aufnahmebereitschaft in den vergangenen Tagen nochmals klar zum Ausdruck gebracht.

Für die Aufnahme fehle jedoch die rechtliche Grundlage, hatte Bundesrätin Keller-Sutter argumentiert. Die Gruppe AsyLex schreibt, dies sei nicht korrekt: „Im Schweizer Recht steht explizit geschrieben, dass Geflüchtete aus «humanitären Gründen» in der Schweiz aufgenommen werden können. Sowohl das Schweizer Einreiserecht als auch das europäische Dublinrecht sehen vor, dass Geflüchtete aus «humanitären Gründen» in die Schweiz einreisen und in das hiesige Asylverfahren aufgenommen werden
sollten. Abgesehen von diesen rechtlichen Grundlagen kann der Bundesrat auch aus eigener Kompetenz die Aufnahme von Geflüchteten in die Schweiz beschliessen. Der Bundesrat hat bereits mehrfach aus eigener
Kompetenz Resettlement Programme verabschiedet, wie bspw. vor ein paar Jahren für die Einreise syrischer Flüchtlinge aus dem Ausland. Humanitäre Gründe sind angesichts der verheerenden aktuellen Lage für Geflüchtete auf Lesvos und der Covid-19-Pandemie auch jetzt klar gegeben.“


Zusammen mit 130 anderen Organisationen im Bündnis Evakuieren Jetzt und tausenden Menschen, die in den vergangenen Tagen an zahlreichen Demonstrationen ihre Unterstützung zum Ausdruck gebracht hat, fordert die SEEBRÜCKE Schweiz die sofortige Evakuierung der Geflüchteten von der Insel Lesbos und die Zustimmung des Bundesrates zur Aufnahme in den Schweizer Städten.

Bild: Hunderte Menschen demonstrierten am Donnerstag in Luzern für die Evakuierung der Geflüchteten aus Lesbos

Kantonsrat erhält die Chance, eine stille Katastrophe zu beenden

23. June 2020
News Presse

“Ein Wasserhahn für 1.000 Menschen” oder “1 WC für 200 Personen” steht auf den Schildern, mit welchen heute Aktivist*innen der JUSO und der SEEBRÜCKE Schweiz die Parlamentarier*innen vor der Kantonsratssession begrüssten. Sie möchten damit auf die Situation in den griechischen Lagern aufmerksam machen. Mit der Annahme der Standesinitiative von Sara Muff erhält der Kanton Luzern heute die Möglichkeit, sich fair, menschlich und solidarisch zu zeigen. 

Im Forderungstext heisst es: “Wir ersuchen den Regierungsrat, folgende Forderungen in Form einer Standesinitiative an die Bundesbehörden zu tragen: 1)  Menschen auf den griechischen Inseln oder in Gebieten mit ähnlichen humanitären Krisen soll in der Schweiz Schutz geboten werden, damit ihnen hier ein ordentliches Asylverfahren gewährleistet werden kann. Die Kapazitäten der Bundesasylzentren sowie der kantonalen Asylzentren sind vollständig auszulasten. 2) Andere Staaten in Europa sollen aufgefordert werden, dies auch zu tun.”

Seit der Einreichung des Vorstosses im März hat sich die Situation in den griechischen Lagern keinesfalls verbessert. Noch immer sind mehrere zehntausend Geflüchtete aus Kriegs- und Konfliktgebieten dort gestrandet, ohne dass sie Schutz erhalten würden. Die medizinische Versorgung ist nicht gewährleistet und selbst das Recht auf ein Asylgesuch wurde zeitweise ausgesetzt. Die Arbeit von Unterstützer*innen vor Ort wird durch neue Regelungen der griechischen Regierung erschwert. 

79.5 Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht. Diese Zahl veröffentlichte das UNHCR anlässlich des Weltflüchtlingstages am vergangenen Samstag. Sie fliehen vor Gewalt, Diskriminierung, Menschenrechtsverletzungen und Konflikten. Die Zahl hat sich seit 2010 verdoppelt und stieg allein im vergangenen Jahr um 9 Millionen. Gleichzeitig können immer weniger Menschen zurückkehren. Waren es in den 1990er-Jahren noch 1.5 Millionen Menschen pro Jahr, können in den vergangen zehn Jahren nur noch rund 390.000 Geflüchtete pro Jahr in ihren Herkunftsort zurückkehren. Dadurch erhöht sich die Gesamtzahl der Menschen auf der Flucht  und ohne ein absehbares Ende ihrer Notlage.

Während immer mehr Menschen fliehen müssen, nimmt Europa immer weniger Menschen auf. Dabei sind 46 Millionen Geflüchtete Binnenvertriebene, die in eine andere Region ihres Herkunftslandes gehen. Wer das Land verlässt, bleibt meist in den armen Nachbarländern. Nach Europa kommen nur etwa 10 Prozent der Menschen. Trotzdem scheitern aus politischen Gründen Initiativen, Menschen beispielsweise aus überfüllten Lagern in Griechenland aufzunehmen, einem Land, in dem im Verhältnis zur Bevölkerung deutlich mehr Menschen Zuflucht gefunden haben als etwa in Deutschland. Die bisherigen Bemühungen der Schweiz, die die Aufnahme 23 unbegleiteter Minderjähriger ermöglichte, ist kaum erwähnenswert. Damit tat die Schweiz nicht weniger und nicht mehr als das, wozu sie durch internationale Abkommen verpflichtet ist. Denn laut Dublin-Verordnung müssen Minderjährige mit familiären Bezug zur Schweiz aufgenommen werden. 

Sara Muff ist mit ihren Forderungen übrigens nicht allein. Über 30 politische Vorstöße in der ganzen Schweiz fordern in den vergangenen Jahren die rasche und unkomplizierte Aufnahme von Menschen auf der Flucht..Auf der interaktiven Karte der frisch lancierten Homepage seebrücke.ch ist es möglich, Forderungen, Berichterstattungen, den Verlauf und den aktuelle Stand der politischen Forderungen zu verfolgen und die Lage der Schweiz im Bezug auf ihre Asyl- und Migrationspolitik zu verfolgen.

Aktivist*innen der JUSO und der SEEBRÜCKE Schweiz mit Kantonsrätin Sara Muff

SEEBRÜCKE Schweiz lanciert Webseite

22. June 2020
News Presse

Über dreissig politische Vorstösse fordern aktuell in der Schweiz, Geflüchtete aufzunehmen – sie richten sich an solidarische Städte und Gemeinden, an Kantone oder direkt an den Bund. Auf der politischen Landkarte der neuen Webseite von SEEBRÜCKE Schweiz www.seebrücke.ch werden alle gegenwärtigen Vorstösse überschaubar dargestellt. Die Visualisierung verdeutlicht die breite Abstützung der Forderungen und ermöglicht eine bessere Vernetzung der Akteure.


Die SEEBRÜCKE Schweiz setzt sich für ein allgemeines und humanitäres Recht auf Migration ein. Sie will eine Gesellschaft schaffen, in der die Solidarität nicht an Ländergrenzen aufhört und die sich öffentlich gegen eine Kriminalisierung der Seenotrettung auf dem Mittelmeer einsetzt. Aus diesem Grund fordert SEEBRÜCKE Schweiz von Städten, Kantonen und dem Bund, dass sie sich solidarisch mit Menschen auf der Flucht erklären. Die interaktive Karte auf der Webseite der SEEBRÜCKE Schweiz präsentiert inhaltliche Forderungen, Berichterstattungen, den Verlauf und den aktuellen Stand aller hängigen Vorstösse zu diesem Thema und ermöglicht dadurch eine koordinierte Vernetzung aller Akteure. Eindrücklich zeigt diese Karte auch, dass sowohl Zivilgesellschaft als auch Politiker*innen unterschiedlicher Parteien hinter diesen Forderungen stehen.

SEEBRÜCKE Schweiz fordert konkret, dass sich die Schweiz aktiv an der Seenotrettung beteiligt und eine rasche Aufnahme von aus Seenot geretteten Menschen ermöglicht. In der vergangenen Woche wurden 278 Menschen von NGOs aus Seenot gerettet – hier bietet sich wieder eine Chance für die Schweiz, sich an einer fairen Verteilung der Menschen in Europa zu beteiligen und dazu beizutragen, dass ihnen das Menschenrecht auf ein Asylverfahren gewährt wird.

Ebenso dringlich ist aus Sicht der SEEBRÜCKE Schweiz die Evakuierung der überfüllten griechischen
Lager, die in den vergangenen Monaten thematisch in den Mittelpunkt gerückt waren. Am Dienstag hat der Nationalrat die Motion “Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland sowie Reform des Dublin-Abkommens” angenommen – ein erster Schritt in die richtige Richtung.

In den letzten Wochen haben die Reaktionen auf den Tod von George Floyd deutlich gemacht, dass die westliche Welt ein schwerwiegendes Rassismusproblem hat. Tief in den gesellschaftlichen Strukturen verankert, spiegelt es sich deutlich in der Situation auf dem Mittelmeer oder in den Lagern an den europäischen Aussengrenzen wider. Wären es weisse Europäer*innen, welche zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken, hätte die europäische Gemeinschaft längst alles daran gesetzt, diese zu retten und die Ursachen zu bekämpfen. Black Lives Matter! Auch auf dem Mittelmeer!