Die Stadt Bern stellt 70’000 Franken für die zivile Seenotrettung im Mittelmeer zur Verfügung. Dieser Entscheid, der im kürzlich verabschiedeten Budget der Stadt verankert ist, zeigt einmal mehr die Dringlichkeit des Themas – und das Versagen der Staaten in ihrer Verantwortung, Menschenleben zu retten.
Mehrere Tage trieb ein Mädchen aus Sierra Leone nach dem Sinken eines Bootes als einzige Überlebende im zentralen Mittelmeer, bis eine Hilfsorganisation sie retten konnte. Nur noch selten erreichen uns Nachrichten wie diese zu den tödlichen Ereignissen an den europäischen Aussengrenzen.
Dabei sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) seit Jahresbeginn 1.993 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen oder gelten als vermisst. Lediglich die Schiffe privater Hilfsorganisationen halten nach in Seenot geratenen Booten Ausschau.
Mit der erneuten Budgetierung der Seenotrettung bekräftigt die Stadt Bern ihr Engagement als «Sicherer Hafen». Die Spende an Sea Eye ermöglicht es der Organisation, weiterhin Menschen aus lebensbedrohlichen Situationen im Mittelmeer zu retten. Weitere Städte sollten diesem Beispiel folgen, fordert die Seebrücke Schweiz.
David Böhner, Stadtrat der Alternativen Linken, sieht die Schweiz in der Verantwortung: «Die Schweiz ist Teil von Schengen und damit Teil der Festung Europa. Anstatt legale Fluchtwege bereit zu stellen, werden Zäune gebaut. Die Stadt Bern appelliert mit der Spende an andere Gemeinden und den Bund, dass es Solidarität braucht und nicht Abschreckung.»
Grundsätzlich sei es ein Skandal, dass zivile Organisationen die Rettung von Geflüchteten übernehmen müssen, sagt Hannah Elias von der Sea Eye Gruppe Bern. „Es ist die Aufgabe der Staaten, Menschenleben zu retten. Stattdessen müssen zivilgesellschaftliche Organisationen wie Sea Eye im Mittelmeer tätig werden, und das auf eigene Kosten.»
Stadtrat Böhner ergänzt: «Die Spende an die Seenotrettung ist ein Zeichen, dass viele in Bern die Augen nicht verschliessen und anerkennen, dass weltweit Millionen von Menschen zur Flucht gezwungen werden. Die Stadt Bern sendet damit ein menschliches Signal der Solidarität.»
Dennoch: «Humanitäre Hilfe durch die Zivilgesellschaft ist nur eine Notlösung», sagt Anne Noack von der Seebrücke Schweiz. «Es ist an der Zeit, dass der Staat endlich seine Verantwortung wahrnimmt.»
Die Seebrücke Schweiz stellt im Juni Kunstinstallationen im öffentlichen Raum der Städte Luzern, Winterthur und Zürich auf. Damit wird auf die europäische Abschottungspolitik aufmerksam gemacht.
Orangene Wegweiser markieren im Rahmen der Aktion alltägliche Orte in der Schweiz und im Ausland, an denen Menschen isoliert und ihre Rechte verletzt werden. Das Ziel ist es, diese Orte sichtbar zu machen und Menschen zu erreichen, die sich sonst nicht aktiv mit dem Thema Flucht beschäftigen. So schaffen die Wegweiser eine Verbindung zwischen dem, was neben uns passiert und dem, was Menschen aus den Medien z.B. von den europäischen Aussengrenzen kennen.
Denn: Das Thema Flucht geht uns hier vor Ort etwas an.
Oft scheint es, dass all diese Menschenrechtsverletzungen, diese unmenschlichen Lager, all diese Toten der Festung Europa so weit weg sind und nichts mit unserem Alltag und unserer Politik zu tun haben. Doch sind diese Verhältnisse einerseits von der europäischen Politik so gewollt und mindestens geduldet – die Schweiz macht und finanziert munter mit. Andererseits zieht sich diese Abschottungslogik und dieser menschenunwürdige Umgang bis vor unsere Haustür.
Die Pfeile der Wegweiser zeigen deshalb mit Kilometerangaben auf Orte, an denen sich die Abschottungspolitik Europas in unserer unmittelbaren Nachbarschaft niederschlägt. Sie zeigen beispielsweise, wie nah etwa Ausschaffungsgefängnisse sind, wo das Migrationsamt liegt, welches diese Ausschaffungen umsetzt und in welchen Lagern Menschen tagtäglich inhaftiert werden.
Egal ob Menschen an einem sicheren Grenzübertritt gehindert oder durch ein strenges Regime eingesperrt werden: Schutzsuchende werden systematisch isoliert, während ihnen ein menschenwürdiges Dasein verwehrt wird. Die Pfeile zeigen so nicht zuletzt auch auf Orte, die bekannte Symbole der europäischen Abschottung darstellen, wie z.B. das Mittelmeer – die tödichste Grenze der Welt.
Aktuell stehen die Wegweiser an diesen Orten in der Stadt Luzern:
Mit dem Russland-Ukraine-Krieg wurde in der Schweiz die private Unterbringung von Geflüchteten auf einen Schlag populär. Was dieses Modell kann – und was nicht.
Ein Beitrag der Republik von Jana Schmid (Text) und Philip Frowein (Bilder), 13.12.2022.
Die Schweiz sucht Betten. Die Asylzahlen steigen. Die Bundesasylzentren sind voll. So voll, dass die «gemeinsame Notfallplanung von Bund und Kantonen» entschieden hat, Asylsuchende früher als üblich auf die ganze Schweiz zu verteilen. Es werden Mehrzweckhallen in Betrieb genommen. Und Asylverfahren beschleunigt. Mittlerweile rechnet der Bund mit rund 25’000 Asylgesuchen für das laufende Jahr – dazu kommen die 70’000 Geflüchteten aus der Ukraine.
Iryna Honcharenko und ihr Sohn sind schon etwas länger da. Sie haben sich eingelebt in der umgebauten ehemaligen Garage in Winterthur. Wenn sie ihre Gastgeber im Garten der Wohngenossenschaft trifft, spricht Iryna Honcharenko immer häufiger Deutsch statt Englisch. Heute hat sie weniger mit ihnen zu tun als am Anfang, wo sie ihr mit dem Papierkram halfen oder zusammen ins Brockenhaus fuhren. Langsam findet sie sich zurecht in der Schweiz, wo sie sich vor dem Krieg in der Ukraine nicht hätte vorstellen können, je zu leben. «Wir hatten solches Glück, wie wir hier aufgenommen wurden», sagt sie.
Dass geflüchtete Personen privat untergebracht werden, war in der Schweiz noch nie so ein Thema wie in den letzten Monaten.
Was bleibt davon? Was kann es bewirken, wenn die Schweizerinnen ihre Haustüren öffnen für Schutzbedürftige? Und welche Rolle hat der Staat dabei?
24. Februar 2022: Krieg in Europa.
Kurz darauf verfiel die Schweiz in einen Aktivismus, der nach Jahren der restriktiven Asylpolitik ähnlich erstaunlich war wie der Kriegsausbruch selbst.
Eine zivile Solidaritätswelle rollte über das Land. Zehntausende demonstrierten für Frieden, Hilfsorganisationen verzeichneten Spendenrekorde, Fassaden und Kirchtürme wurden blau-gelb beleuchtet und ihre Glocken läuteten landesweit gegen den Krieg an.
«Wir wollen grosszügig und unkompliziert sein», sagte Bundesrätin Karin Keller-Sutter vier Tage nach Kriegsbeginn und läutete damit auch auf Behördenseite einen ziemlich unschweizerisch anmutenden Pragmatismus ein.
Innert kürzester Zeit stellten Privatpersonen schweizweit 30’000 Betten zur Verfügung, um Geflüchtete aus der Ukraine bei sich zu Hause aufzunehmen.
Das Staatssekretariat für Migration beauftragte die Schweizerische Flüchtlingshilfe, die privaten Unterbringungen zu koordinieren. Es war das erste Mal, dass es das tat. Der Bundesrat aktivierte den Status S, mit dem Ukrainer rasch ein Aufenthaltsrecht erhalten können, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Auch das zum ersten Mal in der Geschichte des Migrationsrechts.
Und dann ging es los, das Experiment mit den Gastfamilien.
Bis Mitte Juni hatte die Schweizer Zivilbevölkerung bereits rund 80’000 Betten in 30’000 Gastfamilien angeboten. Ende August waren etwa 40’000 Personen privat untergebracht – 60 Prozent der Schutzsuchenden aus der Ukraine in der Schweiz. Heute sind es laut Sozialdirektorenkonferenz weniger, genaue Zahlen seien jedoch nicht verfügbar.
In den Schweizer Medien wurde das Wort «Gastfamilie» zur Konstante: hoffnungsvolle Homestorys. Lob für die Solidarität der Schweizerinnen. Dann Frust von Gastfamilien wegen Bürokratiedschungel und mangelnder finanzieller Unterstützung durch die Kantone. Später erste Berichte über Ermüdungserscheinungen, Konflikte beim Zusammenleben und Umplatzierungen. Viel Sorge um einen Einbruch der zivilen Vorzeigesolidarität nach den Sommerferien. Und dann: das überraschende Ausbleiben dieses Einbruchs.
Die Bereitschaft der Gastfamilien liess kaum nach. Viele behielten ihre Gäste länger als erwartet. Bald war klar: Das ist mehr als nur ein Hype – und vielleicht auch mehr als die Übergangslösung, als welche die Unterbringung in Gastfamilien noch im Frühjahr bezeichnet wurde.
Ist die private Unterbringung also ein Erfolgsmodell?
Ja, sagt Eliane Engeler von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Die Erfahrungen seien sehr positiv. Das grosse Umplatzieren, das einige Kantone und Gemeinden befürchtet hatten, habe nicht stattgefunden. Oft funktioniere die private Unterbringung auch längerfristig gut – oder ende damit, dass die Gäste eine eigene Wohnung fänden.
Das Experiment Gastfamilien ist geglückt. Wie lässt sich dieser Erfolg erklären?
«Die Haltung des Staates und die politische Botschaft sind essenziell», sagt Eliane Engeler. Es sei das erste Mal gewesen, dass sich die Bundesbehörden so klar positioniert hätten.
Denn Hilfsbereitschaft sei grundsätzlich da. Sie müsse aber abgeholt werden.
Das ist in der Vergangenheit oft nicht geschehen.
Auch früher erhielt die Flüchtlingshilfe viele Anrufe von Menschen, die Geflüchtete privat aufnehmen wollten. Etwa nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Doch das ist versandet – weil der Wille der Behörden, afghanische Geflüchtete aufzunehmen, viel kleiner war als heute bei den ukrainischen.
«Es braucht die politische Message der Behörden, dass man das Modell will», sagt Engeler.
Das Staatssekretariat für Migration sieht das ein wenig anders: Grundsätzlich seien die Kantone zuständig für die längerfristige Unterbringung von Asylsuchenden. Der Bund sei also nicht primär in der Verantwortung. Und weil reguläre Asylsuchende ohne Status S immer wieder anwesend sein müssten für Verfahrensschritte, ergebe es in dieser Zeit wenig Sinn, ausserhalb eines Bundesasylzentrums zu leben.
In Winterthur sitzen Iryna Honcharenko und zwei von ihren Gastgebern auf Holzstühlen in der temporären Wohnung des ukrainischen Gasts. Die Wohngenossenschaft – sechs Ehepaare im frühen Pensionsalter – hatte hier bis vor kurzem Suppe gekocht und Sitzungen abgehalten. Bei so einer Sitzung wurde einstimmig entschieden, den Raum ukrainischen Geflüchteten zur Verfügung zu stellen.
«Ich war erstaunt, wie unbürokratisch alles funktioniert hat», sagt einer der Gastgeber, Tilo Nisoli. Untypisch für die Schweiz habe sich das angefühlt. Sie seien sogar persönlich von der Stadt Winterthur informiert worden, dass sie einen Unterstützungsbeitrag beantragen können. «Alles ist so gut organisiert», fällt ihm Iryna Honcharenko ins Wort. Sie spricht lauter als die beiden Männer, und mehr. Manchmal füllen sich ihre Augen plötzlich mit Tränen, und sie spricht noch schneller weiter. So einfach sei es hier. So freundlich. So nett.
Die Kantone sind grösstenteils verantwortlich dafür, geflüchtete Personen unterzubringen. Dass sie das sehr unterschiedlich handhaben, kann ein Problem sein.
Es funktioniere in jenen Kantonen klar am besten, die die Gastfamilien unterstützen und eng begleiten, sagt Eliane Engeler von der Flüchtlingshilfe. Viele Schwierigkeiten liessen sich mit einer guten Betreuung abfedern.
Das zeigt sich etwa in Basel-Stadt, wo die private Unterbringung stark gefördert wird. Der Kanton musste bisher kaum jemanden umplatzieren. In Luzern hingegen, wo wenig auf das Gastfamilienmodell gesetzt wird, hat es bis Ende Oktober 270 Umplatzierungen gegeben. Auf Anfrage bezeichnet der Kanton die private Unterbringung als «herausfordernd für alle Beteiligten».
Die Kantone erhalten vom Bund pro Person mit Status S eine Pauschale von rund 1500 Franken monatlich für Unterbringung und Betreuung. Wie viel davon an Gastfamilien geht, entscheiden die Kantone. Eine Umfrage vom Juni zeigt: Sie haben verschiedene Lösungen.
Während die meisten Kantone den Gastfamilien einen Beitrag zwischen 100 und 270 Franken monatlich zahlen, delegieren andere diese Frage an die Gemeinden oder entrichten den ukrainischen Gästen einen Betrag, den sie weitergeben müssen. Drei Kantone entschädigen die Gastfamilien gar nicht. Sie bezahlen höchstens eine Miete, wenn ein Mietvertrag über eine eigenständige Wohneinheit abgeschlossen wird.
Diese Eigenregie findet die SP-Nationalrätin Céline Widmer problematisch. Per Motion fordert sie, dass Gastfamilien schweizweit einheitlich und ausreichend unterstützt werden. Und damit: eine gesetzliche Grundlage für das Gastfamilienmodell auf Bundesebene.
Wenn überall betont werde, wie wichtig die Gastfamilien seien, dann müsse man das gesetzlich auch abbilden, findet Widmer.
Der Bundesrat findet das nicht, weil die Kantone zuständig seien. Und sowohl die Sozialdirektorenkonferenz als auch das Staatssekretariat für Migration finden auf Anfrage: Es sei noch zu früh, um über eine gesetzliche Grundlage zu diskutieren. Das müsse nach der Krise geprüft werden. Aktuell brauche man die volle Energie, um die «grösste Fluchtwelle seit dem Zweiten Weltkrieg» gut zu meistern, schreibt Gaby Szöllösy, Generalsekretärin der Sozialdirektorenkonferenz.
Das Modell funktioniert also vor allem dann, wenn die Behörden es fördern. Was aber unterscheidet die private Unterbringung von staatlichen Strukturen? Und was bringt sie – den Gästen, den Gastgebern, dem Staat?
Iryna Honcharenko ist in einem der guten Quartiere Winterthurs untergekommen. Hier dominiert das Eigenheim. Schmucke historische Backsteinhäuser mit wilden, aber nicht verwilderten Gärten und Gartenzäunen, deren Farbe man bewusst etwas abblättern lässt. Wenig Verkehr. Elektrovelos, oder solche mit handgefertigtem Stahlrahmen. Ein typisch linksakademisches Umfeld. Ein Quartier, dem man wenig soziale Probleme attestieren würde und einen «geringen Ausländeranteil».
Ein Quartier also, in dem selten jemand wohnt, dessen Leben in der Schweiz mit einem Asylgesuch begonnen hat.
Und genau darin liegt die Stärke des Gastfamilienmodells: Man begegnet sich.
«Private haben ein Potenzial, das der Staat nicht hat», sagt Eliane Engeler von der Flüchtlingshilfe. Bei Privaten sind Geflüchtete mitten in der Gesellschaft, sobald sie hier sind. Das mache das Modell zum «Integrationsbooster» für die Gäste.
Und für die Gastgeberinnen – und deren Freunde, Grosseltern, Nachbarinnen – zu einem effektiven Präventionsmittel gegen Fremdenfeindlichkeit.
Gastgeber Tilo Nisoli sagt, der Austausch mit Iryna Honcharenko habe ihm die Augen geöffnet. Das Weltgeschehen habe ihn vorher schon beschäftigt, aber Krieg und Flucht fühlten sich immer weit weg an. Jetzt sei das anders. Sein Mitbewohner Hans Schütz erzählt, wie ihm dank Iryna Honcharenko klar geworden ist, welche Privilegien man in der Schweiz habe: zum Beispiel den Luxus, auf Improvisation verzichten zu können.
Die Gastfamilien seien eine neue Anspruchsgruppe im Asylwesen, sagt Eliane Engeler. Viele hätten ihre Gäste eng begleitet und so zum ersten Mal hautnah erfahren, was etwa in einem Bundesasylzentrum geschieht oder wie die Asylsozialhilfe ausgestaltet ist.
Gastfamilie zu sein, schafft also auch ein Bewusstsein dafür, was es heisst, mit einer Fluchtgeschichte in die Schweiz zu kommen. Und wenn das in der Mehrheitsgesellschaft ankommt, kann es Forderungen von Menschen aus dem Asylbereich stärkeren Rückhalt geben.
Zu diesem Schluss kommt auch die Soziologin Sarah Schilliger. Sie hat eine Studie zu Freiwilligenarbeit mit Geflüchteten in der Schweiz verfasst. «Bekommen Flüchtlinge ein Gesicht, distanzieren sich bisher eher skeptische Menschen von einem verallgemeinernden Diskurs», schreibt sie. Und: Wenn beide Seiten vom Austausch profitieren, haben weniger Menschen die Vorstellung, dass alles, was Geflüchteten zugutekommt, auf Kosten der Alteingesessenen gehe.
Schilliger weist aber auch auf die Gefahr hin, dass Freiwilligenarbeit zum «Lückenfüller» im Sozialstaat werde und damit den Anschein wecke, dass es keine politischen Lösungen mehr brauche.
Es liegt auf der Hand, dass der Staat von der effektiven und kostenlosen Integrationsarbeit profitiert, die Private dabei leisten – Spracherwerb, der Gang zu Ämtern, die Vermittlung bei kulturellen Fragen.
Klar ist: Ziviles Engagement kann eine Chance für das Asylwesen sein, weil Private Dinge können, die der Staat nicht kann. Menschlichkeit zum Beispiel. Und dafür sorgen, dass Geflüchtete und Alteingesessene sich wirklich begegnen.
Der Fachbegriff dafür: community sponsorship. Im Rahmen einer Studie hat sich das Staatssekretariat für Migration kürzlich mit dessen Potenzial auseinandergesetzt. Die Analyse fällt aber eher dünn aus: Im Vordergrund steht vor allem die Frage, wie die Kompetenzen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden verteilt werden.
Das erfolgreiche Experiment mit den ukrainischen Gästen hat gezeigt: Die Behörden dürfen sich nicht zurücklehnen. Was passiert, wenn sie es trotzdem tun, illustriert ein Beispiel aus Zürich, das nichts mit der Ukraine zu tun hat.
Der Kanton Zürich sucht dringend Pflegefamilien. Er hat dafür im Sommer eine Kampagne gestartet. «Als Pflegefamilie geben Sie einem Kind ein zweites Zuhause», heisst es in einem Promo-Video. «Bei Ihnen darf es unbeschwert aufwachsen.»
Simone Steiner aus Wetzikon weiss: Das ist eine Herkulesaufgabe. Eine, die sie liebt. Sie hat ihr in den letzten sechs Jahren viel gewidmet: Hingabe, Zeit, Geduld, Geld. Jetzt sitzt sie an ihrem Küchentisch und sagt nach langem Zögern: «So, wie es jetzt ist, kann ich nicht mehr weitermachen. Wenn ich alles auf die Waagschale lege, geht es einfach nicht mehr auf.»
Drei Pflegekinder hat sie gemeinsam mit ihrem Ehemann nacheinander betreut, neben der eigenen Tochter. Zwei waren unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Fnan Teklehaimanot war der erste. Heute ist er 19 Jahre alt und wohnt in einer WG in Zürich, wo er bald seine Lehre abschliesst.
Gerade war er mit der Familie Steiner den Grossvater im Engadin besuchen, mit dem er manchmal auch zu zweit wandern geht. «Sie sind meine Ersatzfamilie hier in der Schweiz», sagt er. Für beide Seiten war es alles andere als einfach, als er als 13-Jähriger aus dem Jugendasylzentrum Lilienberg zu ihnen zog und überrollt wurde von den Traumata seiner eineinhalbjährigen Flucht aus Eritrea.
Auch dank viel Arbeit ist die Beziehung bis heute eng. Fnan Teklehaimanot ist an Weihnachten dabei, in den Ferien und immer dann, wenn er etwas Geborgenheit braucht. Pflegekind ist er zwar nicht mehr, doch zur Familie gehört er nach wie vor.
«Im Zentrum Lilienberg hätten sich alle meine Kollegen gewünscht, bei einer Familie leben zu können», sagt er.
«Ein Pflegekind zu betreuen, ist enorm viel Aufwand», sagt Steiner. Sie hat mehrere Weiterbildungen absolviert, obligatorische und freiwillige. Gerade macht sie einen CAS in Traumapädagogik. Das letzte Pflegekind hat die Familie diesen Frühling verlassen. Und auch wenn sie es gerne möchte, kann sich Steiner nicht vorstellen, unter den gegebenen Rahmenbedingungen ein neues Kind aufzunehmen.
Früher bekam sie für ein Pflegekind einen Betreuungsbeitrag von 115 Franken pro Tag, zusätzlich zu einer Nebenkosten- und Verpflegungspauschale. Seit im Kanton Zürich im Januar 2022 ein neues Kinder- und Jugendheimgesetz in Kraft getreten ist, sind es noch 51 Franken. Und auch das nur, wenn das Pflegeverhältnis bereits vor Januar 2022 bestand.
Würde Simone Steiner heute einen unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden neu als Pflegekind aufnehmen, wäre nicht klar, ob sie überhaupt einen Betreuungsbeitrag erhielte.
Der Kanton Zürich hat diese Frage bis heute – fast ein Jahr nach der Gesetzesänderung – für Kinder aus dem Asylbereich nicht geklärt.
Einige Finanzierungsfragen seien in Klärung, schreibt das Zürcher Sozialamt dazu bloss. Währenddessen sucht der Kanton weiter Pflegefamilien.
Im Kanton Bern zeigt sich derweil: Steht ziviles Engagement den migrationspolitischen Zielen der Behörden entgegen, hat es einen besonders schweren Stand.
Jürg Schneider ist seit vielen Jahren Aktivist. Und er ist wütend. Darüber, wie die Berner Migrationsbehörden mit einer Errungenschaft des zivilen Engagements umgehen: der privaten Unterbringung von abgewiesenen Asylsuchenden.
Diese ist im Kanton Bern seit einigen Jahren möglich. Per 1. November 2022 ist sie – bisher einmalig in der Schweiz – auch gesetzlich geregelt.
Das ist keine Selbstverständlichkeit.
Denn abgewiesene Asylsuchende stehen in einem komplizierten Verhältnis zum Staat: Sie sind hier, obwohl sie nach einem Asylverfahren rechtskräftig weggewiesen wurden und die Schweiz verlassen müssten.
Dieser Zustand kann lange andauern. Etwa dann, wenn eine Ausschaffung nicht möglich ist, weil mit dem Herkunftsstaat kein Rückübernahmeabkommen besteht oder weil Identitätspapiere fehlen. Und die Betroffenen das Land nicht verlassen können oder wollen.
Der Versuch der Behörden, an einer konsequenten Asylpolitik festzuhalten: Sie machen den abgewiesenen Asylsuchenden das Leben so unbequem wie möglich, um sie dazu zu bewegen, das Land zu verlassen.
Sie werden aus der Sozialhilfe ausgeschlossen und erhalten nur die grundrechtlich garantierte Nothilfe – rund 10 Franken pro Tag. Erwerbstätigkeit ist ihnen verboten. Und sie werden in sogenannten Rückkehrzentren untergebracht – Kollektivunterkünfte mit sehr wenig Komfort und sehr viel Kontrolle.
Dieses Nothilferegime wird von Menschenrechtsorganisationen seit Jahren kritisiert.
Im Kanton Bern zum Beispiel von der Aktionsgruppe Nothilfe, der auch Jürg Schneider angehört. Die zivile Organisation hat dazu beigetragen, dass abgewiesene Asylsuchende, die lange in der Schweiz sind, bei Privaten leben und so zumindest einigen Restriktionen entkommen können. Rund 140 Personen sind im Kanton Bern privat untergebracht. Seit Anfang November erhalten auch sie die 10 Franken Nothilfe pro Tag. Die Wohnung finanzieren weiterhin ihre Gastgeber.
Damit zu dem Thema, das Jürg Schneider umtreibt.
Im Untergeschoss einer Kirche erzählt Aref Rostami seine Geschichte. Im Kirchensaal übt jemand Posaune. An der Wand hängen Porträts von Hochzeitspaaren. Draussen glotzen Kühe den Autos nach, die selten vorbeifahren und noch seltener anhalten.
Rostami lebt seit acht Jahren in der Schweiz. 2018 wurde sein Asylgesuch abgelehnt. Seit eineinhalb Jahren ist der 33-jährige Iraner privat untergebracht, bei einem Pfarrer aus dem 2000-Seelen-Dorf Niederscherli in der Nähe von Bern.
In den Iran zurückzukehren, kommt für ihn unter keinen Umständen infrage. Sein Leben wäre in Gefahr, sagt er. Auch weil er vom Islam wegkonvertiert ist. Die Migrationsbehörden glauben ihm nicht. Und würden ihn, hätte er denn einen Pass, in den Iran zurückschaffen. Doch sie konnten ihn bisher nicht dazu bringen, sich einen Pass zu beschaffen.
Und hier kommt die private Unterbringung ins Spiel.
Rostami sagt, sie rette ihn davor, in einer psychiatrischen Klinik zu landen. «Ich bin seit acht Jahren hier und darf nichts, gar nichts tun. Das Leben in einem Rückkehrzentrum macht mich verrückt. Nur weil ich da nicht sein muss, bin ich jetzt einigermassen stabil.»
Jeweils sechs Monate darf er bei seinem Gastgeber bleiben, dann braucht es wieder eine neue Vereinbarung mit dem kantonalen Migrationsdienst. Im Sommer stand die dritte Verlängerung an.
Einen Monat davor erhielt er eine E-Mail vom Migrationsdienst: Sie werde nur genehmigt, wenn er bis dahin bei der iranischen Botschaft war, um einen Pass zu verlangen.
Das war neu. Bisher war das nie ein Thema gewesen bei der Verlängerung.
Rostami ging nicht zur Botschaft. Dafür sprach er mehrmals persönlich beim Migrationsdienst vor. Auch sein Gastgeber setzte sich ein. Es gebe keine Grundlage, die private Unterbringung zu beenden. Alles laufe tadellos.
Am letztmöglichen Tag verlängerte der Migrationsdienst dann doch noch. Zum letzten Mal, wie es hiess. Habe er in einem halben Jahr immer noch keinen Pass verlangt, sei endgültig Schluss.
«In einem halben Jahr wird meine Situation nicht anders sein als heute», sagt Rostami. Die Druckversuche des Migrationsdienstes setzen ihm stark zu. Trotzdem: Er könne nicht zur iranischen Botschaft gehen.
Seine Situation ist kein Einzelfall. «Seit dem Frühling beobachten wir diese Praxis der Migrationsbehörden», sagt Jürg Schneider. Der Aktivist und pensionierte Professor für Betriebswirtschaft geht von einer neuen internen Weisung des Kantons aus.
Zahlreiche solcher Meldungen und E-Mails sind laut Schneider in den letzten Monaten verschickt worden – besonders häufig an iranische und eritreische Staatsangehörige.
In etwa einem Dutzend Fällen wurde die private Unterbringung abgebrochen. Gegen den Willen der Gastgeberinnen. Die betroffenen Personen müssen wieder in einem Rückkehrzentrum leben – oder untertauchen.
Das Berner Amt für Bevölkerungsdienste bestreitet eine Praxisverschärfung. Auch eine interne Weisung habe es nie gegeben. Vielmehr sei es eine gesetzliche Pflicht, bei der Beschaffung von Dokumenten mitzuwirken. Diese gelte für abgewiesene Asylsuchende, egal wo sie untergebracht seien. Tun sie dies nicht, könne die Privatunterbringung rechtmässig beendet werden.
Für Schneider geht es um ziviles Engagement, das einen Zustand erträglicher machen will, der von den Behörden herbeigeführt ist.
Dass die Behörden diese Solidarität als Druckmittel brauchen, um die eigenen Ziele zu erreichen – das ist es, was ihn so wütend macht.
Die Asylzahlen steigen. Die Bundesasylzentren sind voll. Auch die Kantone suchen händeringend nach Unterkünften. Viele Gesuchsteller sind minderjährig und unbegleitet, etwa aus Afghanistan. Das Wort «Flüchtlingskrise» ist zurück im öffentlichen Diskurs.
Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass die private Unterbringung einen wichtigen Beitrag leisten kann – wenn Staat und Private dasselbe wollen. Wenn sie eine nachhaltige Ergänzung im Asylsystem sein soll, dürfen zwei Dinge nicht vergessen gehen.
Erstens: Weil Private nicht der Staat sind, dürfen sie grundsätzlich helfen, wann und wem sie wollen.
Es ist populärer, Familien zu unterstützen als alleinstehende Männer. Wenn die Helferin keine Lust mehr hat, fällt das Angebot wieder weg. Und: Es ist offensichtlich, dass gewisse Herkunftsstaaten beliebter sind als andere.
Der Staat hingegen muss diskriminierungsfrei die Grundrechte aller wahren, die auf seinem Staatsgebiet gelandet sind. Das ist ein entscheidender Unterschied – und ein Grund, weshalb Private nicht für allzu grundsätzliche Bedürfnisse zuständig sein sollten. Denn ziviles Engagement kann soziale Rechte nicht ersetzen.
Und zweitens: Ziviles Engagement funktioniert dann am zuverlässigsten, wenn es sich zwar nicht wie ein Geschäftsmodell, aber eben auch nicht wie reine Aufopferung anfühlt. Eine angemessene finanzielle oder beratende Unterstützung wiegt die Eigenleistung von Privaten vielleicht nicht gänzlich auf. Aber sie sollte sie zumindest anerkennen. Und nicht unnötig kompliziert machen. Denn auch wenn es um Solidarität geht – soll das Potenzial von Privaten wirklich genutzt werden, brauchen sie einen fairen Deal.
Medienmitteilung von Evakuieren JETZT vom 18.12.20
Während sich im neuen Geflüchtetenlager auf der Insel Lesvos die unwürdigen Lebensbedingungen verschlechtern (eisige Temperaturen, keine Heizungen, keine Duschen, Überschwemmungen, Zelte ohne Bodenbelag usw.) und Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Grenzwächter*innen fast täglich vorkommen, kündigt Bundesrätin Karin Keller-Sutter auf Weihnachten hin an, 37 unbegleitete Minderjährige in die Schweiz holen zu wollen. Diese Ankündigung ist ein kommunikatives Manöver, welches die bisherige Untätigkeit der Regierung verschleiern soll.
17 der kommunizierten Minderjährigen, die aufgenommen werden sollen, besitzen einen familiären Bezug zur Schweiz. Der Bund ist hier gesetzlich sowieso verpflichtet, zu handeln. Bei den 20 verbleibenden Jugendlichen und Kindern handelt es sich um jene Zahl, deren Aufnahme Bundesrätin Keller-Sutter bereits im September angekündigt hat. Bis heute sind diese anscheinend nicht in die Schweiz eingereist. Die Justizministerin rollt also lediglich ein längst überfälliges Versäumnis medial neu auf.
Zwar begrüssen wir es, dass 37 Minderjährige aus dieser Hölle auf den griechischen Inseln herauskommen, bedauern aber, dass der Bundesrat die dramatische Situation weiterhin ignoriert und keinen politischen Willen zeigt, ernsthafte Hilfe zu leisten. Zur Erinnerung: Während des Kosovo-Krieges hat die Schweiz in einem Jahr 53’000 Geflüchtete aufgenommen; während der Ungarn-Krise in den 50er-Jahren waren es rund 13’000 Menschen. Zahlen, die meilenweit von den angekündigten 37 Jugendlichen entfernt sind.
Angesichts dieser sträflichen Untätigkeit von Regierung und Behörden verstärkt die Zivilgesellschaft ihren Druck. Zusätzlich zu den 50’000 Menschen und 140 Organisationen, die den Aufruf “Evakuieren JETZT” unterstützt haben, haben sich inzwischen 25 Städte und Dörfer bereit erklärt, Geflüchtete aufzunehmen. Kirchen und Kirchgemeinden stellen ebenfalls ihre eigenen Strukturen zur Verfügung, um die Aufnahme zu erleichtern. Solche Hilfsangebote landen jede Woche auf dem Schreibtisch von Frau Karin Keller-Sutter, die sich weiterhin taub stellt.
Nach fünf Jahren haben es Griechenland und die EU immer noch nicht geschafft, menschenwürdige Bedingungen in den Lagern auf den griechischen Inseln zu schaffen. Die Schweiz als Mitglied des Schengen-Raums profitiert vom Dublin-System und ist daher an den katastrophalen Zuständen an den EU-Aussengrenzen mitverantwortlich. Der von der Schweiz mitfinanzierten Grenzschutzagentur Frontex wurden in letzter Zeit zudem massive Menschenrechtsverletzungen an Geflüchteten in der griechischen Inselregion nachgewiesen. Die Beteiligung der Schweiz an Frontex untergräbt daher die Glaubwürdigkeit eines ernsthaften humanitären Engagements unseres Landes. Mit dem Wintereinbruch und der zweiten Welle des Coronavirus müssen die Schweizer Regierung und die Behörden dringend ihren Verpflichtungen nachkommen und die folgenden Massnahmen treffen:
Es gibt nur eine praktikable Lösung für die Situation auf Lesbos, Samos und den anderen griechischen Inseln: Evakuieren JETZT. Die Schweiz kann und muss einen grösseren Beitrag leisten!
Medienmitteilung der SEEBRÜCKE Schweiz vom 05.11.20:
Am Donnerstag wird in Bern von der Alternativen Linken Bern, der JUSO, der Partei der Arbeit Bern, der Grünalternativen Partei, und der Sozialdemokratischen Partei das dringliche Postulat “Stadt Bern soll Sicherer Hafen werden!” eingereicht. Mit der Annahme soll die Stadt ihre langfristige Bereitschaft erklären, sich Menschen auf der Flucht gegenüber solidarisch zu verhalten und den Bund in der Aufnahme geflüchteter Menschen in der Schweiz unterstützen.
Ein sicherer Hafen („place of safety“) ist im eigentlichen Sinne der Seenotrettung ein Ort, an dem die Rettungsaktion beendet werden kann. An dem die Menschen, die auf dem Mittelmeer gerettet wurden, in Sicherheit ankommen können. Der Weg über das Mittelmeer ist mit über 20.000 Toten in den letzten 20 Jahren eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt. Dazu trägt die Schweiz mit ihrer Politik der Abschottung wissentlich und willentlich bei und sieht dem Sterben der Flüchtenden an den europäischen Grenzen zu.
Städte, die sich an der Initiative „Seebrücke – Schafft sichere Häfen“ beteiligen, heissen geflüchtete Menschen willkommen – und sind bereit, mehr Menschen aufzunehmen. Gemeinsam bilden sie eine starke Gegenstimme zur europäischen Abschottungspolitik, an der sich die Schweiz beispielsweise durch transnationale Abkommen, die finanzielle Unterstützung der Grenzschutzagentur Frontex oder das Unterlassen einer staatlichen Seenotrettungsmission beteiligt. Diese Abschottungspolitik verhindert nicht, dass sich Menschen auf die Flucht begeben. Sie macht diese Flucht, beispielsweise über das Mittelmeer, lediglich gefährlicher und fordert Menschenleben.
“Als SEEBRÜCKE schaffen wir Sichere Häfen mitten in Europa. So können sich auch Städte, die nicht geografisch an der Küste liegen, solidarisch erklären. Bern kann hier als erster Sicherer Hafen der Schweiz vorangehen”, sagt Lioba Junker von der SEEBRÜCKE Bern.
Die Stadt Bern hat sich bereits in der Vergangenheit durch verschiedene Aktionen, das Überweisen von Vorstössen und öffentliche Solidaritätsbekundungen klar zu diesem Thema positioniert und ihren Standpunkt in Bezug auf eine menschenwürdige Aufnahme von Schutzsuchenden deutlich gemacht.
Tabea Rai sagt dazu: “Die Situation verschärft sich durch die kalte Jahreszeit und Covid-19 Ausbrüche in verschiedenen Camps. Das Anliegen duldet keinen Aufschub mehr. Wir können nicht verantworten, dass an den Grenzen Europas die Menschenrechte einfach ausgesetzt werden. Wir müssen unsere Verantwortung als Land, aber auch als Stadt sofort wahrnehmen.“
Leider wurde trotz humanitärer Notlage vor den Grenzen Europas, die Dringlichkeit abgelehnt.
An
Karin Keller-Sutter
Bundesrätin
Bundeshaus West
3003 Bern
Bern, 25. September 2020
Sehr geehrte Frau Bundesrätin Keller-Sutter,
Die katastrophale Situation im Geflüchtetenlager Moria war schon lange vor dem Brand Anfang September bekannt. Denn während Schutzsuchende gezwungen wurden, ohne Hoffnung in menschenunwürdigen Verhältnissen zu leben, verschloss die Politik in Europa und in der Schweiz die Augen und stritt jegliche Verantwortung ab. Nachdem die Situation sich durch den Brand noch einmal verschlimmert hat, ist es unverantwortbar, nicht zu handeln.
Auch die Schweiz sollte sich hier angesprochen fühlen, denn seit 2008 profitiert sie von der Dublin Verordnung und ihrer geographischen Lage im Zentrum Europas ohne europäische Aussengrenzen. Dazu kommt, dass die Zahl der eingehenden Asylanträge bereits seit fünf Jahren sinkt. Während
2015 noch knapp 40.000 Menschen in der Schweiz Asyl beantragten, sind es in diesem Jahr kaum noch 10.000. Das ist ein Rückgang von mehr als 75%.
Diesen Rückgang sehen auch die acht grössten Städte der Schweiz, die sich bereits seit längerem beim Bund dafür einsetzen, mehr Menschen in ihrer Mitte willkommen zu heissen, als es eigentlich der Verteilungsschlüssel vorsieht. Die Antwort vom Bund lautete, dass die Kapazitäten nicht
vorhanden seien. Aber weiss nicht jede Stadt oder jede Gemeinde selbst am besten, wie es in den jeweiligen Asylzentren aussieht, was also wirklich die Kapazitäten sind?
Sehr geehrte Frau Bundesrätin, wenn sich die acht grössten Schweizer Städte bereit erklären, mehr Menschen aufzunehmen, dann meinen sie es auch so. Dann ist das nicht nur eine Überlegung am Rande des Geschehens. Dann sollten auch die Kompetenzen des Bundes dieser Entscheidung nicht
im Wege stehen, denn letztendlich werden das Willkommenheissen und die Unterbringung auch nicht vom Bund übernommen. Asylpolitik funktioniert nicht allein von oben. Gemeinden und Kantone sollten unbedingt mit einbezogen und respektiert werden.
Aus diesem Grund fordern wir Sie auf, Ihre derzeitige Asylpolitik zu überdenken und sich zu fragen, ob es nicht einfach eine Selbstverständlichkeit sein sollte, in dieser humanitären Notsituation zu
handeln. Holen Sie Menschen aus den griechischen Lagern zu uns in die Schweiz, dorthin wo Kapazitäten vorhanden sind! Bieten Sie Menschen die Möglichkeit, ein Dach über dem Kopf zu haben und sich effektiv vor Covid-19 schützen zu können! Haben Sie Mut ihrer menschlichen Verantwortung nachzukommen und solidarisch mit all unseren Mitmenschen zu sein!
Freundliche Grüsse
SEEBRÜCKE Schweiz
Der Kanton Luzern lehnt die Standesinitiative zur Aufnahme von Menschen auf der Flucht von SP-Kantonsrätin Sara Muff ab. Sie forderte bereits im Mai, dass sich Luzern beim Bund für die Aufnahme Geflüchteter von den griechischen Inseln einsetzen soll. Kantonsrätin Sara Muff äussert sich enttäuscht zur heutigen Abstimmung: „Der Kantonsrat Luzern hat sich heute entschieden, nicht zu handeln. Er macht sich somit mitschuldig an der Situation auf Lesbos. Solange Politiker*innen nur das tun, was sie nicht aus ihrem Verantwortungsbereich entfernen können, geht das Sterben an den europäischen Aussengrenzen weiter.“
„Diese Entscheidung weniger als eine Woche nach dem verheerenden Brand in Moria können wir kaum fassen. Es ist absolut unverständlich, dass der Kanton nicht bereit ist, in dieser Notlage den Bund zur Aufnahme aufzufordern. Er könnte so für die neun aufnahmebereiten Städte, darunter die Stadt Luzern, den Weg frei machen“, sagt Anne Noack von der SEEBRÜCKE Schweiz. Am vergangenen Mittwoch ist das Geflüchtetenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos niedergebrannt. Knapp 13.000 Menschen sind seither obdachlos und auf den Strassen der Insel kaum versorgt. Die einzige akzeptable Lösung für diese humanitäre Katastrophe ist die sofortige Evakuierung aller Geflüchteten von der Insel.
In der Schweiz haben die neun Städte Bern, Basel, Zürich, Winterthur, St. Gallen, Luzern, Genf, Lausanne und Delemont ihre Aufnahmebereitschaft in den vergangenen Tagen nochmals klar zum Ausdruck gebracht.
Für die Aufnahme fehle jedoch die rechtliche Grundlage, hatte Bundesrätin Keller-Sutter argumentiert. Die Gruppe AsyLex schreibt, dies sei nicht korrekt: „Im Schweizer Recht steht explizit geschrieben, dass Geflüchtete aus «humanitären Gründen» in der Schweiz aufgenommen werden können. Sowohl das Schweizer Einreiserecht als auch das europäische Dublinrecht sehen vor, dass Geflüchtete aus «humanitären Gründen» in die Schweiz einreisen und in das hiesige Asylverfahren aufgenommen werden
sollten. Abgesehen von diesen rechtlichen Grundlagen kann der Bundesrat auch aus eigener Kompetenz die Aufnahme von Geflüchteten in die Schweiz beschliessen. Der Bundesrat hat bereits mehrfach aus eigener
Kompetenz Resettlement Programme verabschiedet, wie bspw. vor ein paar Jahren für die Einreise syrischer Flüchtlinge aus dem Ausland. Humanitäre Gründe sind angesichts der verheerenden aktuellen Lage für Geflüchtete auf Lesvos und der Covid-19-Pandemie auch jetzt klar gegeben.“
Zusammen mit 130 anderen Organisationen im Bündnis Evakuieren Jetzt und tausenden Menschen, die in den vergangenen Tagen an zahlreichen Demonstrationen ihre Unterstützung zum Ausdruck gebracht hat, fordert die SEEBRÜCKE Schweiz die sofortige Evakuierung der Geflüchteten von der Insel Lesbos und die Zustimmung des Bundesrates zur Aufnahme in den Schweizer Städten.
Bild: Hunderte Menschen demonstrierten am Donnerstag in Luzern für die Evakuierung der Geflüchteten aus Lesbos
“Ein Wasserhahn für 1.000 Menschen” oder “1 WC für 200 Personen” steht auf den Schildern, mit welchen heute Aktivist*innen der JUSO und der SEEBRÜCKE Schweiz die Parlamentarier*innen vor der Kantonsratssession begrüssten. Sie möchten damit auf die Situation in den griechischen Lagern aufmerksam machen. Mit der Annahme der Standesinitiative von Sara Muff erhält der Kanton Luzern heute die Möglichkeit, sich fair, menschlich und solidarisch zu zeigen.
Im Forderungstext heisst es: “Wir ersuchen den Regierungsrat, folgende Forderungen in Form einer Standesinitiative an die Bundesbehörden zu tragen: 1) Menschen auf den griechischen Inseln oder in Gebieten mit ähnlichen humanitären Krisen soll in der Schweiz Schutz geboten werden, damit ihnen hier ein ordentliches Asylverfahren gewährleistet werden kann. Die Kapazitäten der Bundesasylzentren sowie der kantonalen Asylzentren sind vollständig auszulasten. 2) Andere Staaten in Europa sollen aufgefordert werden, dies auch zu tun.”
Seit der Einreichung des Vorstosses im März hat sich die Situation in den griechischen Lagern keinesfalls verbessert. Noch immer sind mehrere zehntausend Geflüchtete aus Kriegs- und Konfliktgebieten dort gestrandet, ohne dass sie Schutz erhalten würden. Die medizinische Versorgung ist nicht gewährleistet und selbst das Recht auf ein Asylgesuch wurde zeitweise ausgesetzt. Die Arbeit von Unterstützer*innen vor Ort wird durch neue Regelungen der griechischen Regierung erschwert.
79.5 Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht. Diese Zahl veröffentlichte das UNHCR anlässlich des Weltflüchtlingstages am vergangenen Samstag. Sie fliehen vor Gewalt, Diskriminierung, Menschenrechtsverletzungen und Konflikten. Die Zahl hat sich seit 2010 verdoppelt und stieg allein im vergangenen Jahr um 9 Millionen. Gleichzeitig können immer weniger Menschen zurückkehren. Waren es in den 1990er-Jahren noch 1.5 Millionen Menschen pro Jahr, können in den vergangen zehn Jahren nur noch rund 390.000 Geflüchtete pro Jahr in ihren Herkunftsort zurückkehren. Dadurch erhöht sich die Gesamtzahl der Menschen auf der Flucht und ohne ein absehbares Ende ihrer Notlage.
Während immer mehr Menschen fliehen müssen, nimmt Europa immer weniger Menschen auf. Dabei sind 46 Millionen Geflüchtete Binnenvertriebene, die in eine andere Region ihres Herkunftslandes gehen. Wer das Land verlässt, bleibt meist in den armen Nachbarländern. Nach Europa kommen nur etwa 10 Prozent der Menschen. Trotzdem scheitern aus politischen Gründen Initiativen, Menschen beispielsweise aus überfüllten Lagern in Griechenland aufzunehmen, einem Land, in dem im Verhältnis zur Bevölkerung deutlich mehr Menschen Zuflucht gefunden haben als etwa in Deutschland. Die bisherigen Bemühungen der Schweiz, die die Aufnahme 23 unbegleiteter Minderjähriger ermöglichte, ist kaum erwähnenswert. Damit tat die Schweiz nicht weniger und nicht mehr als das, wozu sie durch internationale Abkommen verpflichtet ist. Denn laut Dublin-Verordnung müssen Minderjährige mit familiären Bezug zur Schweiz aufgenommen werden.
Sara Muff ist mit ihren Forderungen übrigens nicht allein. Über 30 politische Vorstöße in der ganzen Schweiz fordern in den vergangenen Jahren die rasche und unkomplizierte Aufnahme von Menschen auf der Flucht..Auf der interaktiven Karte der frisch lancierten Homepage seebrücke.ch ist es möglich, Forderungen, Berichterstattungen, den Verlauf und den aktuelle Stand der politischen Forderungen zu verfolgen und die Lage der Schweiz im Bezug auf ihre Asyl- und Migrationspolitik zu verfolgen.
Aktivist*innen der JUSO und der SEEBRÜCKE Schweiz mit Kantonsrätin Sara Muff
Über dreissig politische Vorstösse fordern aktuell in der Schweiz, Geflüchtete aufzunehmen – sie richten sich an solidarische Städte und Gemeinden, an Kantone oder direkt an den Bund. Auf der politischen Landkarte der neuen Webseite von SEEBRÜCKE Schweiz www.seebrücke.ch werden alle gegenwärtigen Vorstösse überschaubar dargestellt. Die Visualisierung verdeutlicht die breite Abstützung der Forderungen und ermöglicht eine bessere Vernetzung der Akteure.
Die SEEBRÜCKE Schweiz setzt sich für ein allgemeines und humanitäres Recht auf Migration ein. Sie will eine Gesellschaft schaffen, in der die Solidarität nicht an Ländergrenzen aufhört und die sich öffentlich gegen eine Kriminalisierung der Seenotrettung auf dem Mittelmeer einsetzt. Aus diesem Grund fordert SEEBRÜCKE Schweiz von Städten, Kantonen und dem Bund, dass sie sich solidarisch mit Menschen auf der Flucht erklären. Die interaktive Karte auf der Webseite der SEEBRÜCKE Schweiz präsentiert inhaltliche Forderungen, Berichterstattungen, den Verlauf und den aktuellen Stand aller hängigen Vorstösse zu diesem Thema und ermöglicht dadurch eine koordinierte Vernetzung aller Akteure. Eindrücklich zeigt diese Karte auch, dass sowohl Zivilgesellschaft als auch Politiker*innen unterschiedlicher Parteien hinter diesen Forderungen stehen.
SEEBRÜCKE Schweiz fordert konkret, dass sich die Schweiz aktiv an der Seenotrettung beteiligt und eine rasche Aufnahme von aus Seenot geretteten Menschen ermöglicht. In der vergangenen Woche wurden 278 Menschen von NGOs aus Seenot gerettet – hier bietet sich wieder eine Chance für die Schweiz, sich an einer fairen Verteilung der Menschen in Europa zu beteiligen und dazu beizutragen, dass ihnen das Menschenrecht auf ein Asylverfahren gewährt wird.
Ebenso dringlich ist aus Sicht der SEEBRÜCKE Schweiz die Evakuierung der überfüllten griechischen
Lager, die in den vergangenen Monaten thematisch in den Mittelpunkt gerückt waren. Am Dienstag hat der Nationalrat die Motion “Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland sowie Reform des Dublin-Abkommens” angenommen – ein erster Schritt in die richtige Richtung.
In den letzten Wochen haben die Reaktionen auf den Tod von George Floyd deutlich gemacht, dass die westliche Welt ein schwerwiegendes Rassismusproblem hat. Tief in den gesellschaftlichen Strukturen verankert, spiegelt es sich deutlich in der Situation auf dem Mittelmeer oder in den Lagern an den europäischen Aussengrenzen wider. Wären es weisse Europäer*innen, welche zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken, hätte die europäische Gemeinschaft längst alles daran gesetzt, diese zu retten und die Ursachen zu bekämpfen. Black Lives Matter! Auch auf dem Mittelmeer!