Am 7. Januar 2020 haben die Organisation Solidaritätsnetz und weitere Organisationen die Petition “Sterben auf dem Mittelmeer stoppen!” eingereicht. Die Petition verlangt umgehend, dass sich die Schweiz am Aufbau eines europäisch organisierten und finanzierten zivilen Seenotrettungssystems beteiligt; dass die Menschen, die aus Seenot gerettet werden, nach rechtsstaatlichen und humanitären Grundsätzen auf die Länder verteilt werden; und dass in der Schweiz die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden, damit rasch und dezentral Bootsgeflüchtete aufgenommen werden können.
Die Petition wurde im Ständerat mit 25 zu 14 Stimmen bei 6 Enthaltungen abgelehnt. Während der Ständerat nicht bereit ist, wenigstens ein Minimum gegen das Sterben auf dem Mittelmeer zu tun, findet Ablehnungsbefürworter Thomas Hefti: “Es stört mich, wenn diese Diskussion da und dort so geführt wird, dass wir als die Bösen und Schlechten dastehen.” Aber ist es nicht so, dass die Regierenden diese Situation mit ihrer Abschottungspolitik verursachen?
Mehr Raum möchten wir deshalb dem Votum von Daniel Jositsch für die Annahme der Petition geben:
«Die vorliegende Petition beschäftigt sich mit einer Situation, die nach meiner Einschätzung objektiv betrachtet ein Unrecht darstellt, und zwar unabhängig davon, wie man zur Migrations- und Flüchtlingspolitik steht. Sie stellt einen Missstand dar, der dringend behoben werden muss. Warum?
Die Flüchtlingspolitik, und zwar gesamteuropäisch betrachtet, aber auch in Bezug auf die Schweiz, basiert darauf, dass Sie als Flüchtling, selbst wenn Sie gesetzlich einen Anspruch haben, als solcher anerkannt zu werden und Asyl in der Schweiz zu erhalten, keine Möglichkeit haben, diesen Anspruch in Ihrem Ursprungsland in irgendeiner Art und Weise geltend zu machen. Sie sind dazu gezwungen, auf illegalen Wegen, zum Beispiel mit Schleppern über das Mittelmeer unter Eingehung von Lebensgefahr, sich bis in unser Land zu kämpfen, um hier einen Antrag stellen zu können.
Es mag sein, dass die Schlepper böse, geldgierige Kriminelle sind, aber – und da muss ich dem Kommissionsberichterstatter teilweise widersprechen – sie sind auch die Einzigen, die eine Möglichkeit zur Verfügung stellen, über das Mittelmeer zu kommen. Insofern muss ich Ihnen sagen: Dass es Schlepper gibt, ist der gesamteuropäischen Migrationspolitik geschuldet. Anders kommen Sie nicht über das Mittelmeer.
Diese Situation führte dazu, dass seit 2014 auf der Flucht über das Mittelmeer 21 000 Menschen zu Tode gekommen sind. Das sind zehn Menschen pro Tag! Sie alle erinnern sich vielleicht an dieses Bild von diesem Kind, welches am Mittelmeerstrand gefunden worden ist. (Der Redner zeigt ein Foto) Dieses Bild hat uns alle schockiert, und wir haben alle gefragt, um Gottes Willen, was ist mit diesem armen Kind passiert? – Genau das passiert zehnmal pro Tag! Das passiert mit Kindern, mit Müttern, mit Männern und Frauen, die zum Teil auf der Flucht sind, ohne dass sie irgendetwas dafür können!
Wenn Sie nun sagen – wie es der Kommissionsberichterstatter gesagt hat -, wir schieben den Ball den dortigen Administrationen und Regierungen zu, hilft das diesen Menschen nicht. Wenn Sie in einer solchen Lage sind, wenn Sie in Syrien oder in einem anderen Land sind, in dem Sie nicht mehr leben können und darum auf der Flucht sind, hilft es Ihnen nichts, wenn wir hier sagen, ja, deine Regierung hat eben versagt. Ich möchte Sie zudem darauf hinweisen, dass auch schon Schweizerinnen und Schweizer – wenngleich es schon einige Zeit her ist – darauf angewiesen waren, in anderen Ländern Asyl zu beantragen und als Flüchtlinge anerkannt zu werden.
Ich möchte Sie einfach darauf hinweisen, dass Schweizerinnen und Schweizer – wenn es auch schon einige Zeit her ist – auch schon darauf angewiesen waren, in anderen Ländern Asyl zu erhalten und als Flüchtlinge anerkannt zu werden.
Was will die Petition? Die Petition will nicht mehr und nicht weniger als eine europäisch organisierte Seenotrettungsorganisation. Sie möchte eine geordnete Verteilung der Menschen, die aus der Seenot gerettet werden, und sie möchte eine rasche und dezentrale Aufnahme von Bootsflüchtlingen in der Schweiz.
Der Bundesrat sieht diese Notwendigkeit, er sieht auch, dass die heutige Migrationspolitik, wie sie gesamteuropäisch stattfindet, nicht in Ordnung ist. Aber erstens verweist man – der Kommissionsberichterstatter hat es auch gesagt – auf das Resettlement-Programm; das ist tatsächlich die einzige Version, wie sie quasi vom Ursprungsland her in einem geordneten Verfahren in unser Land kommen. Aber Sie müssen einfach sehen, da sprechen wir von gut tausend Menschen pro Jahr. Ich verniedliche das Problem nicht, aber es betrifft Hunderttausende und nicht tausende.
Der zweite Hinweis des Bundesrates ist: Ja, wir sind halt nicht allein in Europa! Da muss ich Ihnen sagen: Doch, wir sind allein in Europa, weil wir entschieden haben, allein zu sein in Europa! Insofern finde ich es etwas zynisch, wenn wir sagen: Wir sind souverän! Wir pochen auf unsere Souveränität in allen Bereichen. Aber dann, wenn es darum geht, Menschen zu helfen, sagen wir einfach: “Ja, da können wir leider nicht alleine; wir sind ein unabhängiges Land, und deshalb müssen wir unabhängig entscheiden.” Es geht hier um Menschen in Not. Da scheint es mir etwas zynisch zu sein, einfach zu sagen: “Ja, wenn die anderen nichts tun, tun wir auch nichts.”
Von dem her bin ich der Ansicht, dass wir hier neue Wege gehen müssen. Wir müssen hier auch einmal Verantwortung übernehmen, und zwar Verantwortung für diese Situation. Es geht jetzt nicht darum, dass ich Sie dazu aufrufe, unsere Migrationspolitik zu ändern. Nein, Sie können nach wie vor darüber entscheiden, wer in unser Land kommt und wer nicht, wie das heute auch gemacht wird. Der einzige Unterschied ist, dass ich erwarte, dass die Menschen einen Zugang zu einem ordentlichen Rechtsverfahren haben, ohne dass sie sich, von einem Schlepper organisiert, mit einer Nussschale und unter Gefährdung des Lebens ihrer ganzen Familie über das Mittelmeer kämpfen müssen.
Ich möchte einfach, dass sie sich in einem geordneten System, in einem geordneten Verfahren als Flüchtlinge anmelden können. Erst danach ist zu entscheiden, ob jemand einen Anspruch darauf hat, in die Schweiz zu kommen. Wenn ja, dann soll dieser Weg geebnet werden – nicht mehr und nicht weniger! Unter humanitären Gesichtspunkten scheint mir dies das Mindeste zu sein, was man machen kann.
Damit wir Bilder wie dieses (Der Redner zeigt nochmals das Foto) nicht mehr anschauen müssen und solche Situationen verhindern können, ersuche ich Sie dringend darum, die Petition an die Kommission zurückzuverweisen mit dem Auftrag, einen Kommissionsvorstoss auszuarbeiten.»
Bild: Petitionsübergabe in Bern im Januar 2020, https://beobachtungsstelle.ch/news/sterben-auf-dem-mittelmeer-stoppen-petitionsuebergabe/