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Schluss mit den Zwangsrückführungen! Bleiberecht für alle in der Schweiz!

12. June 2022
News

Maria, eine 30-jährige Frau aus Eritrea, kam Ende Dezember 2021 in die Schweiz. Im Bundeszentrum in Chiasso stellt sie ein Asylgesuch. Die Schweizer Behörden verweigerten ihr die Aufnahme unter dem Vorwand, dass ihr in Griechenland der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden sei. Anfang Mai wurde sie an den Kanton Luzern überstellt, der für die Durchführung der Zwangsrückführung zuständig ist. Dort verschwendeten sie keine Zeit. Ein paar Tage später ging sie zum Termin beim Migrationsamt, um ihr Aufenthaltsdokument zu verlängern. Doch dort wartet die Polizei auf sie. Sie wird verhaftet und in das Verwaltungsgefängnis Zürich gebracht. Sie wird von den Polizisten stark unter Druck gesetzt: Entweder sie nimmt den für sie gebuchten Linienflug, oder sie wird inhaftiert und zwangsweise nach Griechenland zurückgeschickt. Sie möchte eine Spur ihrer Erfahrungen und ihrer Verzweiflung hinterlassen.

Triggerwarnung: Dieser Text zeigt Inhalte, welche psychisch, physisch oder sonst in einer Art Menschen erschüttern könnte.

„Als ich 12 Jahre alt war, floh ich aus meinem Heimatland Eritrea, und liess mich mit meinem Bruder und meiner Mutter in Äthiopien in der Region Oromo nieder.

Ich bin vor drei Jahren aus politischen und familiären Gründen aus Äthiopien geflohen. Jetzt herrscht in dieser Region Krieg und eine sehr grosse Hungersnot, aber niemand spricht darüber oder unternimmt etwas dagegen.

Von Äthiopien kam ich in die Türkei. Nach mehreren Versuchen, die Türkei auf dem Seeweg nach Griechenland zu verlassen, kam ich auf der Insel Chios an. Ich dachte, Griechenland sei das Paradies, stattdessen war es die Hölle. Ich lebte zwei Jahre lang in einem Flüchtlingslager unter unmenschlichen, katastrophalen Bedingungen. Ich wohnte mit einer Freundin in einem provisorischen Zelt, mit einem Gaskocher zum Kochen. Im Winter war es sehr kalt, die Zelte sind nicht für Winter und Regen geeignet. Wir hatten nicht genug Decken und Kleidung. Das Lager war überfüllt, die Toiletten waren löchrig, die hygienischen Bedingungen erbärmlich, überall lag Müll herum. Es gab kein fliessendes Wasser und es gab nicht genug Essen für alle. Das Essen, das es gab, war sehr schlecht. Totaler Schwachsinn. Niemand sollte unter solchen Bedingungen leben müssen. Wir hatten keine Unterstützung von irgendjemandem, es war ein totales Chaos. Manchmal gab es sogar Polizisten, die uns wie streunende Hunde verjagten oder schlimmstenfalls mit ihren Schlagstöcken verprügelten.

Ich beantragte politisches Asyl, ohne überhaupt zu verstehen, was mit mir geschah, niemand erklärte mir, worum es ging und welche Rechte ich hatte. In zwei Jahren habe ich 90 Euro erhalten. Als sie mir die Genehmigung erteilten, sagten sie mir, dass ich das Lager verlassen müsse und für mich selbst sorgen müsse. Ich glaube, sie machen das absichtlich, damit sie leicht Genehmigungen erteilen können, denn sie wissen, dass die Menschen die schrecklichen Lager verlassen und sich in Luft auflösen. Nach zwei Jahren kam ich also in Athen an, wir liessen uns in der Strasse (Viktoria Platzes) nieder. Ich habe keine Hilfe erhalten. Es war furchtbar, jede Nacht hatten wir mit meiner Freundin Angst, überfallen zu werden. Es war zu gefährlich, als Frau riskiert man, täglich missbraucht zu werden.

Als ich in Chios war, wurde ich Opfer einer Gruppenvergewaltigung. Ich konnte mit niemandem darüber reden und erhielt keine Unterstützung, weder medizinisch, gynäkologisch, rechtlich noch psychologisch. Ich war allein.

Aber für die Schweizer Behörden ist alles, was ich in Griechenland erlebt habe, nicht genug, sie haben meinen Asylantrag abgelehnt. Ich bin nur eine Nummer, keine Person.

Auszug aus der Negativentscheidung des SEM

Sie sagen mir, dass ich zurück nach Griechenland auf die Strasse gehen muss, dass ich nicht glaubwürdig genug bin:

Wie ist es möglich, auf diese Weise behandelt zu werden? Wie kann ich eine Vergewaltigung beweisen?

Es gibt keine Würde in Griechenland, niemand sollte unter diesen Bedingungen leben. Ich würde ihnen gerne ins Gesicht sehen, denjenigen, die von ihren Ämtern aus den negativen Entscheidungen treffen, und mir erklären lassen, wie ich in Griechenland in Würde leben kann: Ich bin ein Mensch, eine Person mit Rechten, ich bin keine Maus.

Tatort SCHENKON: Hier musste M. während ihrer Zeit im Kanton Luzern von der Gesellschaft isoliert wohnen. Die Abschottung soll verhindern, dass soziale Kontakte in die Schweiz entstehen. Das erleichtert den Behörden eine für sie unkomplizierte Abschiebung.

Im März wurde eine Bekannte von mir von Polizisten geweckt, verhaftet und nach Athen abgeschoben. S. wohnte mit mir im Zimmer, in Chiasso, in der Via Motta. Frühmorgens klopften sie an die Tür, drei von ihnen betraten den Raum, aber unten am Eingang waren viele, vielleicht ein Dutzend. Sie legten ihr vor meinen Augen Handschellen an, als sei sie die schlimmste aller Kriminellen, als sei es in der Schweiz ein Verbrechen, Asyl zu beantragen. Sie nahmen ihre Sachen und steckten sie in einen Sack. S. erzählte mir einige Tage nach ihrer Ankunft in Athen, dass sie drei Tage, einen in Lugano und zwei in Zürich, in Polizeizellen verbracht hat, kalt, mit nichts, drei Tage, ohne zu duschen, und dass sie immer wieder psychologisch unter Druck gesetzt wurde: “Entweder du unterschreibst die Rückführung oder du kommst ins Gefängnis, du hast keine andere Wahl”. Sie versuchte, sich zu wehren, aber nach einer Weile verlor sie die Hoffnung und befindet sich nun wieder auf der Strasse in Athen, immer am selben Ort (Viktoria Platzes), ohne Hilfe, ohne Schutz, ohne Würde.

Tatort AMIGRA: Im Amt für Migration in Luzern wurde M. am Morgen des 16. Mai von der Polizei festgenommen und in Handschellen ins Gefängnis gebracht. Dabei sollte es sich nur um einen Gesprächstermin handeln.

Nach einigen Wochen war ich an der Reihe. Ich lebte jeden Tag mit der Angst, dass ich die Nächste sein würde. Ich war ziemlich gefasst, weil ich einen Wiederholungsantrag beim Bundesverwaltungsgericht anhängig hatte. Aber nichts, überall, wo ich hinkomme, jagten sie mich weg. Als ich beim Migrationsamt in Luzern ankomme, verhaften sie mich dort, sie legen auch mir Handschellen an. Sie sagen mir: ‘Du musst gehen, geh zurück nach Griechenland’. Sie bringen mich nach Zürich, ich schlafe eine Nacht in einer Zelle ohne Fenster, um 9 Uhr wartet ein Flugzeug auf mich; wenn ich es nicht erwische, Gefängnis und Zwangsrückführung. Ich weiss nicht, was ich tun soll, aber ich habe nicht mehr die Kraft, mich zu wehren, zu kämpfen, ich lasse mich gehen….

Tatort POLIZEI: Bei der Luzerner Polizei wurde M. 24 Stunden festgehalten. Sie erhielt keine Informationen über ihre Situation und bis zum Abend keine Lebensmittel.

Als ich in Athen ankam, war niemand da. Die griechischen Behörden wussten von nichts, obwohl die Schweiz verpflichtet ist, sie über meine Ankunft zu informieren. Ich bin wieder da, wo ich angefangen habe, wieder auf der Strasse, wieder in Gefahr, wieder ohne Schutz. Dank einigen Freunden finde ich einen Platz zum Schlafen, aber ich weiss nicht, für wie lange…. Was für ein Elend! Warum behandelt uns Europa auf diese Weise? Auch in Äthiopien herrscht Krieg, warum werden wir nicht so behandelt wie die Ukrainer?”

Seit mehreren Jahren prangern zahlreiche NGOs (HCR, Amnesty International, Human Rights Watch, Ärzte ohne Grenzen usw.) regelmässig die Lage der Menschen auf der Flucht in Griechenland an. Die Hilfsleistungen für Flüchtende und Asylbewerber*innen sind äusserst prekär. Die Menschen haben keinen Zugang zu Wohnraum oder finanzieller Unterstützung durch die griechischen Behörden und landen oft ohne jegliche Unterstützung auf der Strasse[1].

Warum schikanieren die schweizerischen und kantonalen Behörden Männer, Frauen, Kinder, schutzbedürftige Menschen, um sie in Länder zurückzuschicken, in denen es keine Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben gibt? Sie sind keine Menschen mehr, sondern nur noch Pakete. Wie ist es möglich, die katastrophalen Bedingungen des griechischen Aufnahmesystems zu übersehen?

Tatort FLUGHAFENGEFÄNGNIS: Im Flughafengefängnis verbrachte M. die letzten Stunden, bevor sie am 18.05. nach Griechenland ausgeschafft wurde. Die Weigerung in den Flieger zu steigen hätte zu einer Rückführung unter körperlichem Zwang geführt. In Griechenland erwartete sie niemand.

Wir fordern ein Ende aller Abschiebungen und Zwangsrückführungen, ein Ende der staatlichen Gewalt, für die Aufnahme aller schutzbedürftigen Menschen!

Chiasso, Juni 2022.


[1] https://www.rts.ch/info/monde/12591862-des-ong-denoncent-la-precarite-des-personnes- au-statut-de-refugie-en-grece.html“