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Iuventa-Prozessauftakt: Zunahme der Kriminalisierung von Flucht, Migration und Solidarität

16. May 2022
News

Am 21. Mai beginnt auf Sizilien der Vorprozess gegen die Iuventa-Crew. Während europäische Seenotretter*innen und Aktivist*innen viel mediale Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten, wenn sie kriminalisiert werden, bleibt die alltägliche Praxis der Inhaftierung von Migranten (ausschliesslich Männer), die mit denselben Vorwürfen konfrontiert werden, fast unbemerkt. Tausende Migranten werden in Italien und Griechenland wegen angeblicher „Schleusung“ und „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ festgenommen und inhaftiert. 

In Griechenland wird Beihilfe zur illegalen Einreise härter bestraft als Mord. Da gibt es den Fall von Hasan und N. Hasan wird wegen Menschenschmuggels angeklagt und mit bis zu 230 Jahren Gefängnis bedroht. Er habe ein Boot gesteuert, das im November 2020 vor Samos Schiffbruch erlitt. An Bord waren auch N. und sein Sohn, der den Schiffbruch nicht überlebte. N. wird angeklagt, weil sein 6-jähriger Sohn auf der Flucht starb – weil er sein Kind durch die Flucht in Gefahr gebracht habe. Dabei ist das Schiffsunglück weder Hasans noch N.’s Schuld. Es ist ein direktes Resultat der zunehmenden Grenzschliessungen der EU, die Menschen zwingen, ihr Leben und das ihrer Familien zu riskieren. Ihr Gerichtsverfahren ist am 18. Mai 2022. 

Da ist der Fall von Amir und Razuli. Sie versuchten im März 2020 auf einem Schlauchboot Griechenland zu erreichen. Die griechische „Küstenwache“ griff das Boot an und versuchte es unter Gewaltanwendung zurück in türkische Gewässer zu drängen. Nachdem dies misslang, wurden Amir und Razuli festgenommen und willkürlich des „Schmuggels“ und der „Gefährdung von Menschenleben“ angeklagt sowie wegen ihrer eigenen «illegalen» Einreise. Im September 2020 wurden sie zu 50 Jahren Haft verurteilt. Ihr Berufungsverfahren wurde wegen «Überlastung des Gerichts» auf den 8. Dezember 2022 verschoben. 

Oder der Fall der #Paros3. Am 5. Mai verurteile ein griechisches Gericht Kheiraldin, Abdallah und Mohamad zu insgesamt 439 Haft für das Steuern eines Bootes auf ihrer eigenen Flucht. Das Boot kenterte im Dezember 2021 vor der griechischen Insel Paros, wobei 18 Menschen starben. 

Diese Migrant*innen machen, wozu sie von der EU aufgefordert werden: Sie kommen auf europäischen Boden, in diesem Fall auf die griechischen Inseln, um ein Asylgesuch zu stellen. Das ist der normale Ablauf, in Europa überhaupt Asyl beantragen zu können. Sobald sie jedoch ankommen, werden sie genau dafür kriminalisiert. Dabei ist es typisch, dass die Menschen, die die Überfahrt organisieren und damit Geld verdienen, sich nicht selbst in Gefahr bringen und Migrant*innen dadurch gezwungen sind, das Boot zu steuern.

Die griechischen Behörden können mit der Kriminalisierung des Bootsführers oder einer beliebigen Person, die sich auf dem Boot befindet, den Erfolg ihrer Arbeit gegen Schmuggler vortäuschen. Denn: Für diese Menschen interessiert sich die Öffentlichkeit in der Regel nicht. Betroffen von dieser Kriminalisierung waren in Griechenland in den letzten Jahren 2’000 bis 3’000 Personen. Von vielen Fällen wissen wir nicht einmal. 

Den typischen Ablauf eines Verfahrens gegen Migrant*innen schildert ein griechischer Anwalt so: Bei der Inhaftierung sieht sich eine Anwaltsperson kurz den Fall an. Nach acht bis zwölf Monaten kommt es zum Verfahren. 10 Minuten vor dem Beginn des Verfahrens sehen die Angeklagten die Anwaltsperson das erste Mal wieder. Die Verhandlungen dauern ein paar Minuten. Keine Zeug*innen, keine Beweismittel, schnelles Urteil. Von einer fairen Verhandlung, die die geltenden Gesetze beachtet, kann keine Rede sein. Das übliche Strafmass: 5-15 Jahre Haft für jede Person auf dem Boot. Bei 30 Personen ergeben sich absurde Strafmasse von über 200 Jahren. Auch wenn von dieser Haftzeit 12-20 Jahre tatsächlich abgesessen werden müssen, ist der psychische Druck eines solchen Urteils enorm. Zumal für ein Verbrechen, das keines ist und für das man nicht schuldig ist. Für ein Verbrechen ohne Opfer. Denn wer ist das Opfer, wenn Menschen auf eigenen Wunsch von Libyen nach Italien oder von der Türkei nach Griechenland befördert werden? 

Ähnlich ist die Situation in Italien. Migrant*innen, die in Italien verhaftet werden, wird Beihilfe zur illegalen Migration vorgeworfen, ein Verbrechen, das mit bis zu 20 Jahren Haft und hohen Geldstrafen geahndet werden kann. Auch in Italien werden grundlegende Menschenrechte verletzt. Häufig sitzen Migrant*innen monatelang in Haft, ohne überhaupt den Grund zu kennen. Es fehlt an Informationen und Übersetzungen. Migrant*innen werden aufgrund äusserst schwacher Beweislagen und unzuverlässiger Zeug*innenaussagen angeklagt, die Gerichtsverhandlungen sind selten öffentlich, es gibt keinen angemessenen Zugang zu einer Rechtsverteidigung. Die Prozesse sind politisch und die Gerichte strikt. Auch in Italien finden diese Prozesse in der Annahme statt, dass sich niemand für die Menschen und die Rechtsverletzungen, die sie erfahren, interessieren wird. In vielen Haftanstalten ist es nicht möglich, ein Asylgesuch zu stellen. Daher wird aus der Untersuchungs- schnell eine Abschiebehaft. 

Anfang April hat das Berufungsgericht in Palermo vierzehn Migranten freigesprochen, die von 2016 bis 2018 in Italien inhaftiert waren. Sie waren im Mai 2016 direkt nach ihrer Ankunft in Sizilien verhaftet und beschuldigt worden, die Boote mit Migrant*innen gesteuert und sich somit der Beihilfe zur illegalen Einreise schuldig gemacht zu haben. In einem aktuellen Bericht dokumentiert die NGO Arci Porco Rosso, dass seit 2013 in Italien mehr als 2’500 Menschen mit dem Vorwurf, ein Boot gesteuert zu haben, inhaftiert wurden.

Gruppen wie Arci Porco Rosso und Borderline Europe möchten diese systematische Kriminalisierung von Migration an die Öffentlichkeit bringen. Sie geben den Betroffenen Namen, machen auf ihre Fälle aufmerksam und stellen rechtliche Unterstützung zur Verfügung. Dabei können wir sie beispielsweise mit Spenden für den Rechtsbeistand oder mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen und Medienarbeit zu den einzelnen Fällen unterstützen: Freiheit für die #Samos2,  Freiheit für die vier Fussballer, Freiheit für die Moria6, Freiheit für Amir & Razuli, Freiheit für Hamza & Mohamed.

Diese politischen Prozesse funktionieren, weil der öffentliche Diskurs dem Narrativ folgt: Das Sterben auf dem Mittelmeer sei die Folge des «Menschenschmuggels». Wenn man diesen endlich unterbände, wäre das Problem gelöst. Aber wer dieses Narrativ benutzt und Menschen anklagt, die ein Boot gesteuert haben, das Menschen in Sicherheit bringen sollte, darf sich nicht länger als Verteidiger*in der Menschenrechte und erst recht nicht als Verteidiger*in von Migrant*innenrechten darstellen. Die wahren Verantwortlichen für das Sterben auf dem Mittelmeer zu benennen, die europäischen Entscheidungsträger*innen und Akteur*innen wie Frontex, ist die Grundlage für einen breiten öffentlichen Widerstand gegen diese Kriminalisierung. 

Menschen kommen aus vielen Gründen an die Grenzen. Sie fragen dort Menschen, sie über die Grenzen zu bringen. Weil es anders nicht funktioniert. Sie werden in diesen hier besprochenen Fällen nicht gegen ihren Willen von Schmugglern aus ihren Herkunftsorten über die Grenzen geschleppt. Sie machen sich nicht wegen der Schmuggler auf den Weg nach Europa. Jeder Mensch hat einen individuellen Grund für seine Flucht oder Migration. Migration ist eine Realität, der wir nur mit sicheren Migrationsrouten gerecht werden können.