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Was bedeutet der Willkommenstädteappell für die Schweiz? – Interview mit Balthasar Glättli 

21. March 2022
News

Mit der parlamentarischen Initative “Willkommensstädte und solidarische Kantone ermöglichen” vom 10. Februar 2022 fordern die Grünen Schweiz den Bundesrat auf, die lokale Aufnahme schutzsuchender Menschen von den europäischen Aussengrenzen endlich möglich zu machen. Unterstützung für das Anliegen kommt auch von den Städten Bern, Genf und Zürich. Drei Städt, die sich bereits seit langem für eine zusätzliche Aufnahme ausgesprochen haben. 

Auch die SEEBRÜCKE Schweiz setzt sich dafür ein, dass Wege für eine unbürokratische und dezentrale Aufnahme geschaffen werden und arbeitet dafür mit solidarischen Städten und Gemeinden zusammen. Wir zeigen auf, dass es nicht nur einzelne Stimmen sind, die eine andere Migrationspolitik fordern.

Deshalb wollen wir im Gespräch mit Balthasar Glättli, dem Präsidenten der Grünen und Nationalrat, wissen, welche Möglichkeiten es für den Willkommensstädteappell gibt und was in der Schweiz weiter passieren muss um eine lokale Aufnahme voranzubringen. 


Wir möchten mit Ihnen über den Appell zu Willkommensstädten und solidarischen Kantonen sprechen. Als Seebrücke sind wir genau an dieser stärkeren Entscheidungsmacht für Städte und Gemeinden interessiert. Woran knüpft der Appell an und worauf liegt sein Fokus?
Der Ausgangspunkt war, dass sich die Schweiz in dieser Debatte immer im Kreis gedreht hat. Es haben sich immer wieder Städte, Gemeinden oder ganze Kantone bereit erklärt, geflüchtete Menschen aufzunehmen. Damit hat die Schweiz ein positives Gesicht gezeigt. Wir haben dann aber immer gemerkt, dass der inhaltlichen Frage auf Bundesebene ausgewichen wurde. Man hat darauf verwiesen, dass im Schweizer Recht so etwas wie besondere Quoten für Gemeinden oder Kantone nicht vorgesehen ist. So hat man politisch aneinander vorbeigeredet. Die Städte haben gesagt, „wir wollen doch“ und der Bund hat gesagt, „wir können gar nicht.“ 

Welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen?
Es ist jetzt Zeit, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu ändern. Die Aufnahmekontingente müssen erhöht werden, wenn Städte und Kantone bereit sind, zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen. Dabei sagen wir ganz explizit, dass die entstehenden Kosten, die sonst der Bund übernimmt, auch von den Städten getragen werden. Damit ist sichergestellt, dass Städte und Gemeinden die ganze Verantwortung übernehmen. Es geht nicht nur um positive Schlagzeile und die Rechnung geht dann nach Bern. Wir sind bereit, organisatorisch und auch finanziell solidarisch zu sein. 

Die Aufnahme in die Schweiz war bisher also allein aus juristischen Gründen nicht möglich? Oder sind da auch politische Hintergründe im Spiel?
Bisher war die einzige Instanz, die berechtigt ist Kontingente aktiv aufzunehmen, der Bundesrat oder bei kleineren Kontingenten die Migrationsministerin. Es gibt aber rein rechtlich keine Möglichkeit für Städte, geflüchtete Menschen aufzunehmen. Und das wollen wir ändern, damit es dann auch zur politischen Debatte kommt – die politische Debatte ist ja noch gar nicht geführt. Wir haben das Gefühl, in verschiedenen Gemeinden ist Handlungsbereitschaft vorhanden und entsprechend sollte man dort nicht länger blockieren. 

Karin Keller-Sutter hat für Menschen, die aus der Ukraine flüchten, eine unkomplizierte Aufnahme und die Aktivierung des Schutzstatus S zugesagt. Welchen Spielraum gibt das Schweizer Städten im Hinblick auf zukünftige Aufnahmeangebote?
Auch der Status S wird vom Bundesrat verkündet. Die Details sind hier noch zu klären, aber von einem gehe ich aus: Die Menschen, die den Schutzstatus S erhalten, werden dann nach dem bestehenden Verteilschlüssel auf die Kantone und von dort weiter auf die Gemeinden verteilt. Auch hier sind keine zusätzlichen Solidaritätsleistungen einzelner Städte möglich aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen, wie wir sie jetzt kennen. Was Moment anders ist als in vergangenen Krisen, ist dass nicht nur die Bevölkerung und einzelne Städte und Gemeinden ihre Unterstützung für Menschen auf der Flucht erklären. Es zeichnet sich auch ab, dass der Bundesrat die Tür für Schweizer Verhältnisse relativ weit öffnet. Ich finde es wichtig darauf hinzuweisen, dass diese Bereitschaft zur Aufnahme seitens der Städte und der Bevölkerung auch für Flüchtende aus Syrien oder Afghanistan vorhanden gewesen wäre. Und damals ist es der Bundesrat gewesen, der sich geweigert hat, kreative Lösungen zu finden oder von sich aus die gesetzlichen Vorlagen zur Aufnahme durch Städte anzupassen. 

Die Situation ist jetzt insofern eine andere, dass ganz Europa sich für eine andere Aufnahmepolitik entschieden hat und die Schweiz sich dem anschliesst. Wie schätzen Sie das ein: Wenn nicht dieser europäische Druck besteht, könnte die Schweiz auch einmal mit einer progressiveren Aufnahmepolitik vorweg gehen?
Wie ich den jetzigen Bundesrat einschätze, glaube ich nicht, dass die Schweiz kaum jeh einen Schritt voran gehen wird, sondern im besten Fall mitmacht, wenn andere Länder auch mit dabei sind. Aber ich bin überzeugt, dass es auch in Zukunft immer Städte geben wird, die mehr machen wollen. Und das wäre ja der Sinn und Zweck dieser Petition und unser Vorschlag, dass hier jetzt die rechtlichen Möglichkeiten geschaffen werden, dass auch Gemeinden und Kantone Flüchtlinge aufnehmen können, wenn sie die Unterbringung und Finanzierung sicherstellen können. 

Welche Möglichkeiten gibt es noch, in der Schweiz eine andere Migrationspolitik mitzugestalten?
Im Moment haben wir die Diskussion um die Frontex-Abstimmung. Wir werden das einzige Land sein, in dem es eine Volksabstimmung über die Frontex-Weiterentwicklung gibt. Die erneute Aufrüstung von Frontex, die mit viel Personal und technischen Mitteln an der Festung Europa weiterbaut ist für uns ein Kampf, der sich mit dem Kampf um Willkommensstädte verbindet. Für mich ist ganz klar: Wir müssen darauf hinarbeiten, dass wir stärker Brücken bauen und legale Fluchtwege schaffen und dass, wenn die Willkommensbereitschaft dann da ist, dass diese dann auch genutzt werden kann. Ich bin natürlich gespannt, wie sich die aktuelle Situation in der Ukraine auf die Frontex-Abstimmung auswirken wird. Es ist noch zu früh, dazu eine Analyse zu machen. Aber man sieht jetzt schon, dass es anders geht. Anstatt die Grenzen mit Waffengewalt zu sichern, kann die Schweizerische Bundesbahn den ukrainischen Flüchtlingen beispielsweise heute Gratistransporte anbieten. Ich hoffe, dass das dazu führt, dass es mehr Leute gibt, die dieses Referendum gegen Frontex unterstützen. 

Was sind die nächsten Schritte im Willkommensstädte-Appell?
Es geht als nächstes ganz konkret darum, diesen Appell breiter bekannt zu machen.  Über 50‘000 Menschen haben damals den Evakuieren Jetzt!- Appell unterschrieben und unser Ziel ist es natürlich, sie und viele andere jetzt auf diesen Willkommensstädte-Appell aufmerksam zu machen. Was bei Evakuieren Jetzt! gefordert wurde, nämlich dass Städte Flüchtlinge aus diesen Lagern an den Grenzen Europas aufnehmen, dies soll der Appell nun auch ermöglichen. Das zweite, das für uns wichtig ist, ist die Diskussion in der Schweiz etwas zu entkrampfen. Dass es nicht ein Pro oder Contra offene Flüchtlingspolitik ist, sondern dass man sagt, ja es gibt eine Flüchtlingspolitik auf Schweizer Ebene, die dort definiert und entscheiden wird. Und dann gibt es aber die Möglichkeit, dass Schweizer Gemeinden und Kantone darüber hinaus solidarisch sein können. Es ist dann nicht mehr die Frage, muss man mehr tun oder nicht. Es ist dann die Frage, darf man mehr tun, wenn man es will, oder nicht. Wenn ein Stadt- oder Gemeindeparlament bereit ist, dass zu tragen, gibt es ja eigentlich gar keinen Grund, da nein zu sagen. So können wir positiver über die Bereitschaft reden, konkrete Hilfe zu leisten, statt nur davon zu reden, was die gesetzlichen Hürden sind. Das wäre das Ziel dieser Kampagne. 

Das Narrativ von Flucht als Bedrohung für Europa wird sehr bewusst von vielen Medien und Politiker*innen aufrecht erhalten. Welche Möglichkeiten sehen Sie, auch im Rahmen des Appells, dem entgegenzuwirken und ein anderes Bild von Migration zu prägen? 
Was ich wichtig finde ist, dass man die Zusammenhänge zeigt. Flucht und Migration haben mit der Aufrüstungspolitik, mit der Rohstofffrage oder auch damit, welche Regimes man unterstützt, indem man fossile Energien importiert, zu tun. Diese Zusammenhänge haben grad mit dem brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine wieder an Aktualität gewonnen. Es ist wichtig, nicht nur zu sagen, wir sind gefordert, weil so viele Menschen kommen, sondern sich auch darüber Gedanken zu machen, wie man in Europa geholfen hat, die russische Armee aufzurüsten, sonst wäre das ja gar nicht möglich gewesen. Ich finde es wichtig, Flucht und Migration nach Europa nicht immer nur als Bedrohung darzustellen, sondern dass man auch bewusst von einer Verantwortung spricht, die wir durch die Art und Weise unseres Wirtschaftens in der Schweiz und in Europa haben. Es ist nicht so, dass diese Flüchtenden und diese Konflikte, vor denen sie fliehen, aus dem Nichts kommen. 

Vielen Dank für das Interview. 


Gerade die Entwicklungen in der Ukraine zeigen, dass eine unkomplizierte Aufnahme politisch möglich ist. Alle, die vor Krieg fliehen, haben das Recht, Schutz zu suchen! Die SEEBRÜCKE setzt sich ohne Unterschied für die Aufnahme aller Menschen ein, die Schutz bedürfen. Die Festung Europa hat eine Tür geöffnet und wir lassen sie nicht wieder zugehen. Wir fordern den Bundesrat auf, lokale Aufnahme für alle sofort zu ermöglichen!